geranien

Menschen zu akzeptieren, wenn sie eigentlich nichts tun, zwischen den Augenblicken, wenn sie ihre Entscheidungen treffen, heißt ihre Seelen zu akzeptieren: und Ozus Anerkennung transzendiert Toleranz und Mitgefühl – es ist eine Art kosmischer Umarmung.“ (Jonathan Rosenbaum, Ozu à la Cinémathéque)

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Geranien ist vor allem ein Film der Pausen zwischen Entscheidungen, aber auch zwischen einschneidenden tragischen Ereignissen. Für die junge, in Amsterdam lebende Schauspielerin Nina, die für ein paar Tage in die Kleinstadt ihrer Kindheit zurückkehrt, ist es die Zeit zwischen dem Tod und der Beerdigung der geliebten Großmutter. Es ist aber auch die Pause zwischen ihrer Entscheidung eine Rolle in einer berüchtigten Fernseh-Seifenoper anzunehmen oder abzulehnen. Für sie, ihre Eltern oder ihre Schwester ist es auch eine Zeit des Innehalten. Der Film selbst scheint immer wieder innehalten zu wollen. Scheinbar abrupt beendet ein harter Schnitt eine Szene und für eine Sekunden schiebt sich ein Schwarzkader zwischen die Bilder.  Pausen sind zum Regenerieren, Kraft schöpfen, um irgendwie weiter zu leben. Etwas geht zu Ende, etwas Neues muß begonnen werden. Gleich am Anfang, wenn Nina vom Flughafen mit der S-Bahn zum Haus ihrer Eltern fährt, sieht man vom Fenster auf Industrieruinen, die von der Natur langsam wieder zurückerobert werden.

Es gibt wenig Gefühlsausbrüche. Oft sieht man Nina, aber auch andere Familienmitglieder beim Nichtstun zu, aber auch bei fast schon sinnentleerten Aktionen, wie etwa dem Entsteinen einer viel zu großen Menge Pflaumen. Oft sitzt Nina am Fenster und blickt auf die trostlose Umgebung ganz mit ihren Gedanken und Gefühlen beschäftigt, von denen wir mehr erahnen als wirklich kennenlernen. Manchmal telefoniert sie mit ihrem Mann oder ihrem Kind. Einmal streitet sie sich mit einer betrunkenen Jugendfreundin nach einem Kneipenbesuch. Ihre Geschichte, ihre Beziehung zu ihrer verstorbenen Großmutter (die ihr einmal fast die ständig arbeitende Mutter ersetzt hatte) oder ihr Leben in Amsterdam dringen nur in kleinen Hinweisen in diesen Film ein. Die Welt, in der Nina lebt ist dennoch erahnbar. Das Universum eines ganzen Menschenlebens ist gerade zwischen diesen gezeigten Nichtereignissen zu finden. Der Film bezieht seine Größe vor allem aus diesen Nicht-Ereignissen. Und gerade das vermeintlich Ereignislose zelebriert Tanja Egen mit einer seltsamen Feierlichkeit.

Die Großmutter erscheint nicht in einer Rückblende, sondern in einem Familienvideo, das sich Nina auf ihrem Smartphone ansieht. Je mehr der Film fortschreitet, umso mehr erscheinen die scheinbar unmotivierten Übergänge von Szene zu Szene schon fast wie ein genau komponiertes Musikstück. Auch die Apparate des Kinos, deren fließende Bewegungen immer wieder unterbrochen werden, ist immer gegenwärtig. In diesem scheinbaren Nichts ist die ganze Welt spürbar. Die fast schon Verweigerungshaltung allen sogenannten Attraktionen gegenüber, dieser Ökonomie der Gefühle (in der ein leises Weinen fast schon einer Explosion gleichkommt) –  gerade sie machen den Film im Nachhinein zu einem seltsam ergreifenden Kinoerlebnis. Ninas schwierige Beziehung zu ihrer Mutter ist weniger in den Dialogen, als in dem Schweigen zwischen den beiden Frauen erfahrbar. Diese Pausen, diese Zwischenzeit zwischen Ereignissen und Entscheidungen offenbaren sich dann vor allem als eine schwer zu fassende Intensität.

Zugegeben – ich habe den Film unter absoluten Luxusbedingungen gesehen, nämlich auf einer der schönsten Leinwände Berlins, im Kino International und in einer Stadt und auf einem Filmfestival, dem schon auf dramatischen Weise die Kinos ausgehen. Unter besseren Bedingungen kann man den Film nicht sehen.

Ozu über einen seiner schönsten Filme Bakushu (Weizenherbst, 1951): „In diesem Film wollte ich einfach den Zyklus des Lebens zeichnen, bzw. stärker die Wandelbarkeit der Dinge als die Ereignisse.“

Am Morgen nach der Welturaufführung es Films von Tanja Egen erschien mir der Film noch mal so schön. Wie gesagt, zwischen den Industrieruinen des Ruhrgebiets blühen wieder Blumen. Geranien, dieser wunderschöne Film von Tanja Egen widersetzt sich der Gefährdung des Kinos mit einer zarten aber unnachgiebigen Beharrlichkeit. Da können einem schon mal die Tränen kommen.

Rüdiger Tomczak

(English version to be announced)