Dieser feine, zurückhaltende und manchmal wie schwebende Dokumentarfilm handelt doch vom Schwersten und vom Schwierigsten: von (Vorfahren-)Schuld und Berufung und wie sich beides durchkreuzen kann, wie Erkenntnis, Vergebung und Heilung im Vertrauen geschehen kann. Der Schweizer Regisseur Lukas Zünd, der auch reformierter Pastor ist) und seine Protagonistin Silvia Pauli haben dabei erfahren, dass sie sich während der Arbeit am Film der Vorsehung anvertrauen konnten. Nicht nur die Ausgangsidee des Films wurde korrigiert, sondern seine Geschichte umgeschrieben. (Die Gedanken des Regisseurs zu diesem Thema auf seiner Webseite und in einem Artikel gehören zu den verantwortungsvollsten Äußerungen, die ich von einem Filmschaffenden je gehört habe.)
Mit dem Trailer werden wir in den Film hinein wie auf eine Reise geschickt, eingeladen die Suche von Schwester Silvia nach einer Familienschuld zu begleiten. Die Bilder wecken Erstaunen: eine Frau in der strengen Diakonissentracht, die sich auf eine Aufklärungsmission begibt. Gerüstet und beschützt ist sie dabei durch eine sehr persönliche, stilisierte Bewegungskunst, die in der Tracht ausgeübt wird. Die feinen Gesten und Bewegungen beschwören und beschwichtigen Schmerz und Trauer. Aber der letzte Ausschnitt des Trailers zeigt einen Tanz der stillen Freude vor dem Altar, — der an Miriams getanzten Dank an Gott erinnert.
Schwester Silvias Großvater war der Leiter des KZ Bisingen. Ein prophetisches Bild, das Silvia 2008 empfängt, gibt ihr eine Weisung: Ein verschütteter Brunnen, darüber Stacheldraht. Sie wird aufgefordert, hinabzusteigen und erhält das Versprechen, dort die Quelle zu finden. Zuvor würde sie Schreckliches entdecken – das ahnte sie. Im Film sehen wir sie, als sie das berichtet, an einem solchen abgedeckten Brunnen und vergegenwärtigen uns das Bild, das im Nachhinein für die Aufdeckung von Geheimnissen, Benennen der Schuld – und auch für die Korrektur ihrer Berufung zu sehen ist. Aber zunächst begleitet sie der Film an einen dieser Orte des Schreckens. Im Museum der Gedenkstätte von Bisingen adressiert sie erneut die Schuld: vor dem Foto auf seiner Akten-Mappe spricht sie den Namen, das Verbrechen und die Verwandtschaftsbeziehung aus: „Johannes Pauli, Großvater und Mörder.“
Im Schatten dieser schon bekannten Schuld werden im Lauf des Films aber andere Schrecken sichtbar, die als Folgen in den nächsten Generationen erkannt werden könnten. Der Titel des Films bezieht sich auf die Frage nach diesen Folgen, die Silvia umtrieb, in Exodus 20,5 : „ Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Vorfahren heimsucht an den Nachkommen bis in die dritte und vierte Generation, bei denen, die mich hassen“
Man kann das Ringen um die Berufung sehen. Die Brüche. Ein Unfall mit 14 hatte dem Traum, Tänzerin zu werden ein Ende gemacht. Doch dieses Aufgeopfertwerden eines Traums kehrt auf wunderbare Weise wieder in dem künstlerischen Sonderweg, den Silvia als Diakonisse, in ihrer Ordenstracht, geht. Sie sucht eine Ausdrucksform in Tanz und Performance, aber gemäß ihrer Hingabe keinen Selbstausdruck, sondern indem sie sich zum Instrument macht. Ein größerer, ja fast grotesker Gegensatz zwischen der aus der Zeit gefallenen, keuschen evangelischen Ordenstracht und der Performancekunst, – wenn man jedenfalls an die berüchtigtsten Künstler und Aktionen denkt, ist zunächst kaum denkbar. Die Trachten von katholischen Nonnen sind dagegen vertraut und einzuordnen, sie tauchen in TV-Serien auf und an ihnen wird das Thema der Berufung und des Aufopferns auf einer „Wohlfühlebene“ verhandelt und das Thema auch an sie sozusagen delegiert. In dieser Zeit der Beliebigkeit, der geglaubten Auflösbarkeit von Bindungen – an Gott wie an Menschen – erscheinen sie zwar auch anachronistisch, aber mit ihnen lässt sich gut „spielen“. Dass es ein evangelisches Pendant, nicht zur kontemplativen, aber zur karitativ tätigen Nonne gibt, mit dem Versprechen der Ehelosigkeit und des Dienstes am Nächsten, ist vielen nicht mehr bekannt. In meiner Kindheit gab es in unserer evangelischen Gemeinde noch so eine Schwester, doch was sie aufgegeben hatte, erzählte mir niemand. ich sah nur mit Befremden ihre Tracht, die sie so einsam erscheinen ließ für mich, da sie ja die einzige ihrer Art war, so fremd und etwas unheimlich. Genau diese Kleidung, die bei der Gründung der Dienst-Gemeinschaften im 19. Jahrhundert ja signalisieren sollte, dass diese Frau nicht mehr „verfügbar“ war, ist für Silvia Pauli offenbar ein Schutz, als sie in eine Diakonissengemeinschaft eintritt, mit Anfang 20. Im Verlauf des Films wird deutlich, dass sie wohl genau diesen Schutz, als Mensch, als Frau, als Christin brauchte – und dass das Opfer „angenommen“ wurde. Es ist auch möglich, diesen Weg als einen Bußgang unter dem Vorzeichen der Familienschuld anzusehen. Der Film nimmt in dieser Hinsicht mehrere dramatische Wendungen, die ich nicht vorwegnehmen will, da ich ihn unbedingt empfehle anzusehen. Jedenfalls erzählt sie im Film davon, dass sie trotz der Richtigkeit der Berufung genau dieses Gefühl der Einsamkeit inmitten der Gemeinschaft hatte, – das ich bei der Schwester von außen gefühlt hatte.
John Henry Newmans Wort „Ich habe einen Platz in Gottes Plan, auf Gottes Erden, den kein anderer hat.“ ist eben von Gott her das Einfache und Klare, aber für den Menschen oft das Schwierigste überhaupt: zu erkennen. Berufung muss immer wieder neu verstanden werden, da es sein kann, dass ein Weg, der im vollen Gehorsam gegangen wurde, enden kann und dass es eine Neu-Berufung gibt. Ich bin deshalb so berührt und begeistert von Lukas Zünds Film und seiner Protagonistin, weil er uns zum Zeugen solcher Prozesse macht. Wir dürfen ganz in die Nähe der Kämpfe und Erkenntnisse kommen, in Wort und Bild, aber der Film nimmt in seinen Einstellungen immer wieder diskret Abstand. Etwa wenn Schwester Silvia sich zum Gebet in die Kapelle begibt und auf einem kleinen Bänkchen kniet, die Tracht bauscht sich dabei und macht sie zur Gestalt der Anbetung. Doch die Kamera bleibt in großer, gleichsam liebevoller Entfernung und betritt diesen Raum nicht mit uns, wir sehen nur einen Ausschnitt durch die offen bleibende Tür. Wie um Jesu Wort zu illustrieren, dass das Gebet nicht zum Anschauen durch andere Menschen gedacht ist, sondern um von Gott gesehen zu werden.
Bettina Klix