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Siegfried Kracauers „Straßen in Berlin und anderswo“ wurde 2009 neu herausgegeben, 1964 ziemlich unbeachtet erschienen, lässt uns die Sammlung von Feuilletons (entstanden zwischen 1926 und 1933) Kracauer als wachen und auch wahr-träumenden Beobachter des Vorkriegsalltags kennen lernen. Es ist faszinierend, wie wir in diesem Buch auch kommendes Unheil, hinein oder herauslesen können, alles verdichtet im Text über die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, betitelt „Ansichtspostkarte“. Die noch unzerstörte neoromanische Kirche war eines der beliebtesten Berlin-Motive auf Karten, so beliebt wie heute das Foto von der Ruine und dem Kirchenneubau. Es ist ein geradezu prophetischer Text, der doch mit Vorurteilen beginnt, mit Architekturkritik und religiöser Überheblichkeit. Kracauer meint zu wissen, dass in diesem Haus Gott nicht wohnen und nicht angebetet werden kann. Wie in einer Vision ihrer Zerstörung wird aber die verachtete Kirche am Abend durch das Licht der benachbarten Kinos fast aufgelöst. Dieses Licht und seine profane Herkunft wird – quasi soziologisch – genauso kritisiert und verachtet wie der Kirchenbau. Doch spricht Kracauer diesem Lichtspiel eine Kraft der Verwandlung zu: den Ort zu einem „Hort des Vergossenen und Vergessenen“ gleichsam umzuschaffen. Es ist die Vision der Umwandlung in eine andere Art der Gedenkkirche, nicht zur Erinnerung an einen Kaiser, – obwohl sie seinen Namen weiterhin trägt – sondern in ein Mahnmal, die Vision einer da noch unbekannten Zukunft von Schuld, Zerstörung und Bewältigung. Ein Ort, an den Menschen heute wirklich auch kommen, um Tränen zu vergießen. Die Kerzenleuchter in der Gedenkhalle, dem ursprünglichen Eingangsbereich der alten Kirche, sind umlagert und füllen sich nach der Öffnung morgens im Nu mit angezündeten Lichtern.
„Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Abend: wer sie, vom Bahnhof Zoo herkommend, erblickt – und der Großstädter erblickt sie überhaupt nur abends, da sie ihm tagsüber nichts weiter ist als ein riesenhaftes Verkehrshindernis ist -, dem wird ein merkwürdiges , ein beinahe überirdisches Schauspiel zuteil. Von der religiösen Baumasse strahlt ein sanftes Leuchten aus, das so beruhigend wie unerklärlich ist, eine Helle, die mit dem profanen rötlichen Schimmer der Bogenlampen nichts gemein hat, sondern sich fremd von der Umwelt abhebt und ihren Ursprung in den Kaiser-Wilhelm-Gedächtniswänden selber zu haben scheint.
Dringt der fahle Glanz aus dem Kircheninnern hervor? Aber dieser Kuppelbau, der Schwert und Altar miteinander verkuppelt, hat offensichtlich nur den einen Ehrgeiz: nach außen hin zu repräsentieren. Das trägt eine romanische Uniform und ist inwendig gar nicht zu benutzen. Das könnte mit Steinen ausgefüllt sein. Das beschwört die Erinnerung an Bezirkskommandos, Hofprediger und Kaiserparaden herauf.
Der geheimnisvolle Glanz ist in Wirklichkeit ein Reflex. Reflex der Lichtfassaden , die vom Ufapalast an bis über das Capitol hinaus die Nacht zum Tage machen, um aus dem Arbeitstag ihrer Besucher das Grauen der Nacht zu verscheuchen. Die haushohen gläsernen Lichtsäulen, die bunten überhellen Flächen der Kinoplakate und hinter den Spiegelscheiben der Wirrwarr gleißender Röhren unternehmen gemeinsam einen Angriff gegen die Müdigkeit, die zusammenbrechen will, gegen die Leere, die sich um jeden Preis entrinnen möchte. Sie brüllen, sie trommeln, sie hämmern mit der Brutalität von Irrsinnigen auf die Menge los. Ein hemmungsloses Funkeln, das keineswegs nur der Reklame dient, sondern darüber hinaus sich Selbstzweck ist. Aber es schwingt und kreist nicht selig wie die Lichtreklame in Paris, die ihr Genüge darin findet, aus Rot, Gelb und Lila ihre verschlungenen Muster zu bilden. Es ist viel eher ein flammender Protest gegen die Dunkelheit unseres Daseins, ein Protest der Lebensgier, der wie von selber in das verzweifelte Bekenntnis zum Vergnügungsbetrieb einmündet.
Der milde Glanz, der die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche umfließt, ist der unbeabsichtigte Widerschein dieser finsteren Glut. Was vom Lichtspektakel abfällt und vom Betrieb ausgestoßen wird – öde Mauern bewahren es auf. Das Äußere der Kirche, die keine Kirche ist, wird zum Hort des Vergossenen und Vergessenen und strahlt so schön, als sei es das Allerheiligste selber. Heimliche Tränen finden so ihren Gedächtnisort. Nicht im verborgenen Innern – mitten auf der Straße wird das Unbeachtete, Unscheinbare gesammelt und verwandelt, bis es zu scheinen beginnt, für jeden ein Trost.“
Tatsächlich ertappe ich mich dabei, dass ich mich in diese Perspektive der Zwischenkriegszeit vor der großen Zerstörung gut versetzen kann. Als Zeitgenossin hätte ich wohl den neoromanischen Bau, der den Geist dieser Epoche nicht einzufangen vermag, – anders als die Turmruine! – auch geringschätzig betrachtet, Und einfach deshalb, weil die Kirche noch da war! Aber der Anblick einer alten Postkarte von 1925 „Berlin: Kurfürstendamm und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche“ löst in mir tiefes Bedauern, Erinnerung an die Kriegszerstörung und den Wunsch nach Wiederherstellung aus. Es freut mich immer wieder, dass die Berliner sich den Plänen eines kompletten Abrisses widersetzten. So wurde das Fragment der Turmruine die überzeugende äußere Gestalt der Mahnung. Und in der Gedenkhalle „mitten unter uns“ steht der kriegsbeschädigte Christus, der früher auf dem Altar im Kirchenraum seinen Platz hatte, und heute in seiner versehrten einarmigen Gestalt gütig auch diejenigen begrüßt, die nur zufällig hereinstolpern. Manche Touristen , so erzählte mir eine Ehrenamtliche, fragen sie irritiert, ob sie sich in einer ehemals katholischen oder evangelischen Kirche befinden, da die Halle innen mit byzantinisch anmutenden Deckenmosaiken ausgestattet ist, auf denen man nicht sogleich die weltlichen Herrscher erkennt, die Hohenzollern. Vielleicht erst wenn eine Führung darauf hinweist, geht der Blick nach oben zum zentralen Christus Pantokrator, / Weltenherrscher an der Decke, auch beschädigt, oder – noch übersehbarer – zum Boden, wo ein den Drachen besiegender Erzengel Michael streitet.
Freitagmittag aber beim Coventrygebet, das 1959 formuliert wurde, und jede Bitte mit „Vater vergib“ beschließt, wird die Mahnung greifbar, denn die Gedächtniskirche hat das unglaubliche Privileg, eines der Nagelkreuze aus dieser von Nazideutschland 1940 bombardierten englischen Stadt erhalten zu haben, was mit der Verpflichtung zum Versöhnungsgebet verbunden ist.
So hat sich erfüllt, was in Kracauers Text in einer prophetischen Doppelbelichtung vorweggenommen wurde. Reimar Klein schreibt im Nachwort zu „Straßen in Berlin und anderswo“, die Kirche erinnere nicht mehr an die „Allianz von Thron und Altar“, sondern mahne „auf einmal zur Trauer über vergangenes Leiden.“

Bettina Klix