Plötzlich bekam ich Lust, auf diese Friedhöfe zu gehen.“

(Heinz Knobloch, Berliner Grabsteine)

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„An der Grenze des Gestern“ befand sich Siegfried Kracauer 1932 im gleichnamigen Text, als er eine „permanente Film- und Foto-Schau“ in Berlin besuchte. Er berichtet von unheimlichen und lächerlichen Eindrücken. Denn: „Durch diese Sammlung erst wird das ungewusst mitgeführte Leben offenbar und tritt uns fremd gegenüber.“ Beim Anblick einer Fotografie aus der „Urzeit“, von „Niépce , der zwischen 1816 und 1830 gewirkt hat und der Vorläufer Daguerres gewesen ist“, kommt Kracauer zu dem Gedanken: „Und die Rührung, die sich der heutigen Betrachter beim Anblick des vergilbten Blattes bemächtigt, erklärt sich daraus, dass es zum Unterschied von den meisten modernen Photos das Vergängliche retten, nicht aber bis zum Überdruss verewigen will.“ Und so verschiebt sich diese „Grenze des Gestern“ bis zu uns.

Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, 2009

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In seinem Vorwort zu einem geheimnisvollen schwarz-weißen Fotobuch von Andreas Feininger, das ganz dem Stein gewidmet ist, der sich aber als höchst lebendig erweist, auch wo er nicht von Menschenhand bearbeitet ist, schreibt Kasimir Edschmid:
„In einem Zeitalter, das solche Zauberdinge wie die Kanzeln der Pisani hervorbrachte, an deren Wänden Hunderte von Gestalten sich tummeln, hätte man die Sublimität besessen, höchst persönliche Porträts herzustellen – aber die Bilder, die wir auf der Goldmünze oder auf der Plastik des damaligen Weltwunders, des Staufers Friedrich des Zweiten, bestaunen, zeigen nur die Majestas. Das Übermenschliche und Unpersönliche. Keine Person, nur den Verkörperer des Reichs.
Hitler meinte in seiner ersten Kulturrede (und glaubte es sicher auch), dass die Künstler dieser Frühepoche, welche die romanischen Kathedralen bauten, ihre Figuren nicht porträt-ähnlich, sondern verkauzt, verbogen und dämonisiert gebracht hätten, weil sie es nicht anders gekonnt hätten. Sie hätten es natürlich gekonnt, aber sie sahen anders. Sie wollten und sahen ihre Verkürzungen und Verbildungen, die immer dem Allgemeinen dienten. Nur Hitler sah nicht richtig.“

Andreas Feininger fotografiert Steine, 1960

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Ein 17jähriger deutscher Soldat, noch im März 1945 regulär eingezogen zum Wehrdienst, berichtet in „Totentanz Berlin“, einem Buch, das jahrzehntelang nur noch auf Englisch erhältlich war, auch von den Kämpfen in der U-Bahn im April 45 und von einem besonderen Moment nach dem Weg durch die Dunkelheit:
„Mit der U-Bahn fährt man von einer zur anderen Station zwei bis drei Minuten. Und wir sind nun fast schon eine halbe Stunde unterwegs. Die Eingänge zu den Bahnhöfen sind mit Gittern verschlossen. Einige Kolbenstöße brechen die Türen auf. Ich sehe im Halblicht das glänzende Schild der Station. Wir sind am „Kaiserdamm“. Eine große Kinoreklame wirbt für den neuen Farbfilm „Opfergang“. Wir brauchen kein Kino mehr…“

Helmut Altner, Totentanz Berlin, 2009

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Ein Buch, das auch für Menschen mit schlechtem Orientierungssinn sehr lesbare Karten von den wichtigsten Berliner Friedhöfen enthält, half mir, eine desinteressierte Schülergruppe auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof problemlos zum Grab von Friedrich Schinkel führen, – das sich übrigens in einem sehr gepflegten Zustand befindet. Was sich von den wenigen noch erhaltenen Bauten leider nicht behaupten lässt, skandalösestes Beispiel aus den letzten Jahren: die Friedrichswerdersche Kirche, die durch die Bauarbeiten des Luxuswohnprojekts in Tuchfühlung extrem beschädigt wurde und mühselig wieder hergestellt werden musste, zunächst noch mit ungewissem Ausgang.
Da zeigt sich eine Geschichtsvergessenheit und Pietätlosigkeit, die in Berlin immer besonders krasse Formen annimmt. Der DDR war die Schinkelsche Bauakademie einfach nur im Weg, da bedurfte es keiner ideologischen Begründung.
So bleiben aber wenigstens die Friedhöfe, die auch abgelöst von den ursprünglichen Gestaltungszielen eine Kultur bewahren, die außerhalb der geschützten Zone so nicht mehr existiert. „Wie durch ein geöffnetes Geschichtsbuch“, so der Autor, könne man hindurchgehen.

Ingolf Wernicke, Berliner Friedhofsspaziergänge, Berlin, 2010,

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In den Eva-Lichtspielen in Berlin Wilmersdorf, gab es 2011 eine Reihe mit frühen deutschen Nachkriegsfilmen, die selten auf dem Programm stehen, einige klassische „Trümmerfilme“ waren dabei. Die Reihe begann mit dem düsteren „Irgendwo in Berlin“ (1946, von Gerhard Lamprecht), der die zerstörte Stadt aus der Sicht von Kindern zeigt, die in den Ruinen immer noch „Krieg“ spielen.
Einen bemerkenswerten Film dieser Umbruchszeit konnte ich zum ersten Mal im Kino sehen. Ich hatte ihn einmal im Fernsehen schnell auf einer alten VHS-Kassette aufgenommen, als ich seinen fulminanten Anfang sah: „Film ohne Titel“ (1947/48) von Rudolf Jugert. Der Film heißt so, weil er beginnt, während er erst noch hergestellt werden muss, und obwohl er sich selbst ständig „auseinandernimmt“ und ironisiert, verschickt er doch auch wieder ganz ernst gemeinte Einladungen, sich an die Figuren zu binden. Hier sieht man Hildegard Knef auf der Höhe ihrer Schönheit und ihrer Kunst – darin Welten entfernt von ihrem Einsatz in einem Exploitation-Film wie „Die Sünderin“(1951, Regie: Willy Forst). (Angesichts unserer gegenwärtigen Kultur des Todes wäre dieses Werk noch einmal zu untersuchen: wegen der darin als beste Lösung nahegelegten Sterbehilfe und des anschließenden Selbstmords, der als Krönung der Liebe dargestellt ist.)

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Der Politthriller „Die Spur führt nach Berlin“ (Regie Frantisek Cap, 1952), besticht vor allem durch den Schauplatz Berlin. Unheimliche Verfolgungsjagden durch Trümmer, Ruinen und Bunker, die zeigen, was nach der Zerstörung durch den Krieg noch von der Stadt übrig war, von vielen Gebäuden, die heute nicht mehr existieren oder nicht aufgebaut wurden, wie die Gedächtniskirche. Solche Entscheidungen wurden eben nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD aus politischen Gründen getroffen.

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„Liebe 47“ (1948/49) von Wolfgang Liebeneiner basiert auf dem wohl berühmtesten Stück Trümmerliteratur „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert. Der Autor hatte die Bühnenpremiere seines Theaterstücks nicht mehr erlebt, das 1947 uraufgeführt wurde. Wer das Werk in der Schule kennen lernte, erinnert sich an die quälende Ausweglosigkeit, die in immer neuen Anläufen bekräftigt wird. Der „Heimkehrer ist einer „von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist.“ Der Film aber biegt im letzten Moment ab und lässt den heimkehrenden Soldaten (Karl John) eine zunächst ebenso lebensmüde Frau (Hilde Krahl) finden, mit der ein Neuanfang möglich ist.

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„Berlin ist zu groß für Berlin“ von Hanns Zischler ist selbst für eine geborene Berlinerin eine Spuren- und Schatzsuche – nicht nur nach dem Verlorenen, Zerbombten, Zerstörten, sondern auch nach dem Aufgegebenen, dem sinnlos für das Schlechtere Preisgegebenen. Trotzdem ist es auch ein Trost, nicht nur durch das wunder- und sonderbare Bild- und Kartenmaterial, das Entdeckungen erlaubt, sondern durch den Hinweis auf verbliebene Schönheit und Gelungenheit.
Besonders bewegt hat mich das Kapitel „Das Stadtbild gehört uns“ – ein Satz des Wunschdenkens von Karl Scheffler, einem jahrzehntelang vergessenen Architekturkritiker. Nach der Fertigstellung des neuen Doms – eines der Projekte der Bauwut der wilhelminischen Zeit, die Zischler „Zerstörungseuphorie“ nennt – schreibt Scheffler angesichts des größenwahnsinnigen Neubaus, für den der alte Dom gesprengt worden war:
„Wenn der Plan, in Berlin eine neue Domkirche zu bauen…immer wieder vertagt worden war, so war im Wesentlichen das Gefühl für die Wichtigkeit und Verantwortlichkeit der Aufgabe schuld daran. Die Beteiligten, zu denen auch Schinkel gehörte, empfanden, dass das Beste gegeben werden müsse, was moderne Baukunst zu leisten vermag.“ Selbst „mit der Fülle seines nachgeborenen Genies“ seien Schinkel keine überzeugenden Entwürfe gelungen, denn: „Er fühlte, und mit ihm seine Zeit, zu romantisch-hellenisch, zu goethisch-heidnisch, um eine schlichte protestantische Predigthalle vorschlagen zu können; und andererseits blieb ihm die Idee einer kalten Repräsentationskirche fremdartig.“

Karl Scheffler, Stilmeierei oder Neue Baukunst. Ein Panorama, 2010

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„Berlin selbst aber ist wie ein Kirchhof des Ruhms; es hat viele große Menschen begraben, nur wenige hat es geboren…Berlin weiß nur selten von einem, denn Berlin hat keine Westminsterabtei, keinen Père Lachaise. Berlin vergisst seine großen Toten, es hat keinen Stolz auf seine Vergangenheit. Um groß zu sein, muss Berlin noch einen Kirchhof für die Unsterblichen erhalten, wo ein Ruhm neben den andern gelegt werden und das Volk die Anknüpfungspunkte seiner Geschichte auffinden kann. Bis jetzt wird noch ein Ruhm hierhin, der andere dort begraben, in allen Winkeln liegt ein Stückchen davon. In Berlin mag ich nur begraben sein, wenn ich vergessen sein will.
Die Kunst zu vergessen aber besitzt Berlin in einem sehr hohen Grade.“
(Fedor Wehl, Die Wehmut in Berlin, 1843)

Gefunden in: Heinz Knobloch, Berliner Grabsteine, 1987

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“Often the wounds and gifts we receive take longer to metabolize than the span of our lives would appear to allow. We may not have eternal life, but to understand the character of our peculiar harms and godsends is a task that would have to requisition in its behalf something like eternity. What we have not resolved, what we lack the time to resolve, may constitute the substance of our imperishability.“

Frank Giering (1971-2010)

Eine seiner Rollen erscheint für mich so eng mit ihm verbunden, als sei er es selbst gewesen: Der namenlose „junge Mann“ in Romuald Karmakars „Die Nacht singt ihre Lieder.“(2004)
Er ist darin beschwert von einer tiefen Traurigkeit, die sich mit Langsamkeit so paart, dass sie nicht als gespielt erscheint. Es ist kaum möglich, sich das zuschauend vom Leib zu halten. Vielleicht war es besonders diese quälende Intensität, die so viel Ablehnung bei Publikum und Kritik hervorrief. Mir kam seine Figur, die Hoffnungen auf ein eingereichtes Manuskript gesetzt hatte, das abgelehnt wieder zurückkam, jedenfalls sehr nah. Dass er nun an dieser Adresse nicht mehr angetroffen werden wollte, war für mich nachvollziehbar. da ihm auch noch die Liebe aufgekündigt wurde. Die Wohnung hatte er aber nicht mehr verlassen können. Jedenfalls nicht durch die Tür. Und die Art wie der „junge Mann“ dann aus dem Film verschwand, ganz unerwartet, durch einen Sprung vom Balkon – aus seinem Leben – war für mich wie ein Bild für den frühzeitigen Tod von Frank Giering, – gerade weil er ihn nicht selbst herbeiführte.
Im Film hatte sich die Liebe nur einen entscheidenden Moment verspätet.

„Grief is slow and growth is slow and many kinds of love are slow. “

Englische Zitate aus: Eric Miller, The Reservoir, 2006

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Christoph Schlingensief (1960 -2010)

Dem ein Jahr vor seinem Tod erschienenen Tagebuch seiner Krebserkrankung schickt Christoph Schlingensief ein Zitat voran: „Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.“ (Walter Benjamin) Obwohl das Buch mitten aus dem Überlebenskampf heraus geschrieben ist, dient diese Erkenntnis ihm offenbar als Leitstern, um seine eigenen Versäumnisse zu erkennen und ihnen in der Öffentlichkeit dieses Buches nachzuforschen. Es ist ungemein rührend, wie er schon auf den ersten Seiten von dem Erwerb des Buches „Die Bibel. Was man wirklich wissen muss“ berichtet und von seiner Bestürzung angesichts seiner Unkenntnis. Jedenfalls ist er entschlossen, das, was ihn angeht, sofort zu ergreifen: „In dem Buch von Nürnberger stehen jedenfalls zwei, drei beeindruckende Sätze. Er schreibt: ,Gott fordert, dass der Mensch darauf verzichtet, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Nur dann, wenn genügend Freiwillige bereit sind, sich auf diese ungeheure Forderung einzulassen, kann Gottes Plan gelingen. Weil diese Forderung so groß und die menschliche Bereitschaft, ihr zu entsprechen, so klein ist, darum harrt Gottes Plan bis heute seiner Erfüllung.‘ Und hier kommt der andere Satz: ,Der Mensch glaubt nicht, dass er das Leben gewinnt, wenn er es drangibt. Daran scheitert Gottes Utopie.‘ Tja, das Leben drangeben, um zu leben…“
Er versucht, all seine Rückschläge zu verstehen, um sich selbst und anderen einen Weg der Annahme zu zeigen:
„Heute Abend habe ich mich erneut gefragt, warum das Leid als Währung in unserer Welt nicht richtig existiert. Das war doch früher mal anders, es gab doch Zeiten, wo man sich mit seiner Wunde nicht so verstecken musste.“
Dann kommen Versuchungen: „Gestern habe ich wirklich wieder daran gedacht, wie man möglichst gut und schnell von der Bildfläche verschwindet, und habe mir Sterbehilfe-Seiten im Internet angeguckt. Da war mir aber glücklicherweise gar nicht wohl mit. Außerdem will ich doch nur, dass ich keine Schmerzen habe und das geht doch heutzutage mit dieser Palliativmedizin, das ist auch religiös völlig in Ordnung.“
Kurz vor dem Ende des Berichtes, als seine Hoffnung auf Heilung schon viel schwächer ist, er aber – mit aller Kraft seines alten Ichs und durch die neuen Erkenntnisse des Leidens – seinem Leben eine völlig Wendung gegeben hat, denkt er an seine Toten. Am Anfang seines Weges als Kranker verurteilte er seinen verstorbenen Vater als jemanden, der das Leiden nicht angenommen hatte. Jetzt steht er an seinem Grab und überlegt, „wie man Kontakt aufnehmen könnte zu Leuten, die gestorben sind und die einem vielleicht helfen könnten….
Ich will kein Stühlerücken und Kartenlegen oder so. Aber die Menschen haben doch jahrtausendelang und in allen Kulturen und Religionen an solche Verbindungen zwischen den Toten und den Lebenden geglaubt und den Kontakt zu den Toten in ihr Leben integriert. Wieso können wir das nicht mehr? Wieso schließen wir die Toten so radikal aus, dass sie unauffindbar werden?“
Kurz vor Schluss findet sich die Passage, die den Titel erklärt, es geht um die Wertschätzung des Lebens und die große, schöne Verantwortung des Menschens:
„Am liebsten würde ich einfach allen, allen Menschen zurufen, wie toll es ist, auf der Erde zu sein. Was einem da genommen wird, wenn man gehen muss. Ich wünsche mir so sehr, dass die Leute begreifen, wie sehr es sich lohnt, sich um diese Erde zu kümmern.“

Christoph Schlingensief , So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, 2009

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Die Seele nur

Ob unsere Toten, die wir eh und gestern
Dem Unausdenklichen anheimgegeben,
Ob irgend Kunde sie von uns empfangen,
Ob Antwort niederdringt zu unserem Leben?

Zur Gleichnisrede lädt die Schöpfung ein
Im Sterngeleuchte und im Wolkenwiegen,
Ich sehe Mückentanz und Immergrün
Und weiße Falter, die ein Grab umfliegen,

Das Flücht’ge denn, die Wandlung und die Dauer,
Zugleich den Riegel und zugleich die Pforte,
Die Pforte – und wohin? Geschrieben steht:
IM SPIEGEL sehn wir und IM DUNKLEN WORTE.

Wir wissen nichts – ob sie uns wissen, ob
Als die Befreiten sie den Tag uns segnen?
Die Seele nur – sie möchte ihnen heut schon
In einer andren Herrlichkeit begegnen.

(Albrecht Goes)

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Bettina Klix

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