von Swapan Kumar Ghosh (aus Sunday Nr. 20, 26. Oktober 1985)
Was hat Sie veranlasst, Paroma zu machen, von dem viele Leute sagen, der Film sei autobiografisch?
Aparna Sen: Das ist Unsinn. Ich bin nie in einer Situation wie Paroma gewesen. Ich ging noch zur Schule, als ich bereits an Filmen mitgearbeitet habe. Als ich die Schule veließ, habe ich dann professionell gearbeitet. Daher war ich in meinem Leben nie Hausfrau. Es gibt weder eine Ähnlichkeit wischen mir und Paroma, noch hat ihre Geschichte mit irgendeinem Kapitel in meinem Leben zu tun. Allerdings in einem Sinne ist jeder Film, den man macht, autobiografisch. Ich bin mehreren Leuten wie Paroma begegnet. In der Tat, was mich zu diesem Film inspiriert hat, war der Fall einer Freundin, mit der ich zur Schule gegangen bin. Sie war ein brillantes Mädchen und war sehr wissenschaftlich-akademisch orientiert. Dabei war sie liebenswürdig – und das ist sie immer noch. Ich wurde später zu einer Feier in ihr Haus eingeladen und war überrascht, sie zu sehen. Sie war die Braut der Familie. Zu dieser Zeit hatte sie schon Kinder und war ungefähr 32 oder 33. Jemand kam, berührte ihre Füsse und sagte: “Ranga Pishima (Ranga Tante), ich habe Dich seit langer Zeit nicht mehr gesehen, wie geht es Dir?” Sie war so schön. Und ein anderer kam und berührte ihre Füsse und fragte: “Wie geht es Dir” Wissen Sie, zu dieser Zeit und sogar noch heute ist es mir peinlich, wenn jemand meine Füsse berührt. Aber bei ihr wirkte das so anmutig. Plötzlich erschien es mir, als spiele sie eine Rolle und ich fragte mich, was aus dem Mädchen geworden ist, das in der Schule Gedichte geschrieben hat und so wunderbar rezitieren konnte. Wo ist sie? In diesen Rollen, die sie spielt, kann ich sie nicht mehr finden. Doch sie muss noch da sein, irgendwo. Sie erschien nicht schrecklich unzufrieden, aber man konnte eine gewisse Traurigkeit, eine Art Einsamkeit erkennen. Man konnte fühlen, dass sie nicht zufrieden war. Ihr geht es nicht schlecht, sie wird von allen gelobt, als sehr gute Schwiegertochter, Ehefrau, Mutter und all das. Aber sie ist natürlich nicht Paroma, sie ist eine bewusstere Frau als Paroma. Doch man geht immer von den Leuten aus, die man kennt.
Das mag autobiografisch sein aber nur in dem, was ich in meinem Leben erfahren habe, nämlich, dass die meisten Beziehungen, ausgenommen die zu Eltern oder Geschwistern, immer auf bestimmten sozialen Vereinbarungen wie Heirat basieren. Diese Beziehungen sind keine zwischen Mensch und Mensch. Sie hängen von anderen Faktoren ab. Für mich ist eine Beziehung zwischen zwei Menschen nur dann von Bedeutung, wenn sie komplett getrennt ist von allen anderen Faktoren wie Heirat oder soziale Vereinbarungen. Irgendwann möchte ich einen Film über die Beziehung zwischen einer Frau (die sehr früh in eine Familie hineingeheiratet hat) und deren Schwiegermutter machen, nachdem die Frau bereits von ihrem Mann geschieden ist. Im Moment fasziniert mich so eine Beziehung wie zwischen den beiden Frauen. Jeder redet über Paroma als eine Geschichte über Ehebruch oder darüber, dass es ein feministischer Film sei. Aber für mich ist der Film eine Erforschung von menschlichen Beziehungen. Denken Sie an die Schwiegermutter in Paroma. Paroma hat der Familie selbstlos gedient. Was auch immer sie getan hat oder falsch gemacht hat, was immer sie ihrem Ehemann angetan hat – sie hat nie ihre Schwiegermutter falsch behandelt, ihre Pflichten ihr gegenüber nie vernachlässigt. In solch einer Situation kann die Schwiegermutter sie nicht in Frage stellen, kann nicht sagen,“was ist passiert, was hast Du getan?“. Aber sie tut es dennoch in dem Film, da die Schwiegermutter keine Beziehung akzeptieren kann, die nicht durch eine vereinbarte soziale Bindung geschützt wird.
Haben Sie erwartet, dass Paroma solch eine Sturm auslösen würde?
Bis zu einem gewissen Grad, aber ich werde nicht so tun, als ob ich sehr mutig gewesen wäre und etwas getan hätte von dem ich wusste, wie die Auswirkungen sein würden. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, versuche ich nur so ehrlich wie möglich zu meinem Thema zu sein. Aber als ich dann das Drehbuch von Paroma gelesen habe, ahnte ich, das dies wie ein Schock sein könnte. Und besonders da ich nicht sicher war, ob Paroma irgendeinen Groll hegte. Ihr Ehemann hat sie niemals geschlagen, noch war sie hoffnungslos unglücklich mit ihrer Familie. So habe ich es dem Publikum nicht leicht gemacht, sich für die Figur zu engagieren. Ich denke, es gibt Dinge, die im Gemütszustand einer Person abstrakt bleiben. Es bleibt lediglich ein undeutliches Gefühl, dass etwas fehlt.
Wie sind sie mit den Publikumsreaktionen umgegangen?
In einem gewissen Sinne trifft Paroma unter die Gürtellinie. Die Leute waren völlig unvorbereitet auf den Film, der die Säulen unserer Gesellschaft hinterfragt. Und Familie gilt immer noch als sehr wichtig. Ich habe versucht zu zeigen, dass ein Individuum zuerst einmal sein oder ihr Potential erkennen muss um sich dann als Mitglied einer Familie zu definieren.. Ich habe den Beginn einer Verständigung zwischen Mutter und Tochter gezeigt. Und da habe ich das Gefühl, jetzt, wenn die Tochter irgendwelche Probleme als Frau hätte, würde sie zu ihrer Mutter kommen, um Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Dann würde der Film sich gegen die Familie richten. Die meisten Kritiker und Zuschauer sind immer noch Opfer eines sozialen Systems und männlichem Chauvinismus. Ein One-Night-Stand ist für einen Mann nur die Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses. Keiner macht sich darüber Sorgen, keiner redet darüber. Aber wenn das eine Frau macht, sind die Leute verunsichert. Der Punkt ist aber, dass Paroma niemals sagt, dass eine Frau Ehebrecherin werden soll. Paroma erforscht lediglich die Psyche einer Frau, die eine Erfahrung als Ehebrecherin macht und welche Reaktionen das in ihrer Familie auslöst. Als die Familie reagiert, nachdem Paroma blossgestellt wird, gibt es niemanden in dieser Familie, der bereit ist, ihr beizustehen. Das habe ich versucht zu zeigen und das ist es, was alle an dem Film beanstanden. Das trifft nämlich genau die Wurzeln.
Und Ihre Reaktionen auf die Kritiken, die ja auch eine Kontroverse geschaffen haben?
Die Kritiken waren sehr durchwachsen. Ich würde nicht sagen, dass alle den Film abgelehnt haben. Aber wie ich das sehe, hat keiner so etwas wie konstruktive Kritik geübt. Sie beurteilen immer noch nach Archetypen. Ich habe Paroma am Anfang als archetypische Hausfrau gezeigt. In der zweiten Hälfte des Films habe ich dann allerdings versucht zu zeigen, dass in diesem Archetyp ein Individuum lebt. Aber das haben sie nicht verstanden. Sie denken von Anfang an, dass Paroma ein Individuum ist. Darum fragen sie auch, was fehlt ihr denn wirklich in ihrem Leben? Wenn Paroma so artikuliert und so klar in ihrem Denken wäre, könnte sie ganz genau ausdrücken, was ihr in ihrem Leben fehlt. Dann würde sie möglicherweise nicht durch diese Erfahrungen gehen müssen.
Sehen Sie ihren Film als Beitrag für die Frauenbefreiung?
Ich würde ihn nicht einen Frauenbefreiungsfilm nennen. Ein Punkt, der vielleicht etwas mit Frauenbefreiung zu tun hat ist das Ende, in dem Paroma einen 600 Rupie-Job annimmt. Eine Zeitung hat sich darüber mokiert, warum Paroma so blöd ist zu denken, dass 600 Rupien sie finanziell unabhängig machen könnten. Nein, das ist ein Anfang, ein Symbol.
Viele Zuschauer fanden die Bettszenen vulgär. Was sagen Sie dazu?
Nun, vulgär würde ich nicht sagen. Ich denke nicht, dass ich irgendwelche ästhetischen Empfindlichkeiten verletzt habe, noch habe ich die Zensoren herausgefordert. Die Zensurbehörde hat nicht eine einzige Szene beanstandet. Und ich denke die Bettszenen sind künstlerisch und ästhetisch. Man kann sagen, es gibt viele Szenen die körperliche Intimität zeigen. Ich wollte die Intensität einer solchen Beziehung zeigen und zwar in diesem bestimmten Alter. Man kann davon ausgehen, dass Paroma aus einer sehr konservativen Familie kommt. Man kann auch sicher sein, dass ihre Heirat eine arrangierte war. Paroma verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Jetzt, in diesem Alter, in dem sie weiß, dass ihr Liebhaber Rahul fortgehen wird, ist diese Beziehung von kurzer Dauer. Kann man sich da körperlich überhaupt zurückhalten? Ich denke, das wäre sehr unrealistisch. Natürlich hätte ich das nicht unbedingt so zeigen müssen. Aber warum nicht? Wenn dieselben Zuschauer oder Kritiker ausländische Filme sehen, die oft voll von erotischen Szenen sind, fühlen sie sich nicht beleidigt. Sie nennen das dann auch nicht vulgär. Ich denke ja nicht, dass sie alle nur deshalb diese Filme schauen, denn in solchen Sequenzen geht es auch um Berührungen, Dinge, die einfach nicht durch Worte ausgedrückt werden können. Eine Kritikerin hat gesagt, ihr Mann sei noch sexuell aktiv. Was soll das heißen? Das heißt überhaupt nichts. Versuchen sie zu sagen, dass Leute aufhören sexuell aktiv zu sein wenn sie älter als 20 sind ? Oder versuchen sie zu sagen dass die saubere körperliche Beziehung zwischen Paroma und ihrem Mann sie eigentlich befriedigen sollte? Warum? Wer sind die, die das bestimmen wollen? Und überhaupt, wenn zwei Menschen sich ineinander verlieben mit dem ganzen Zauber, der zwischen zwei Menschen passieren kann – dann ist das in Paromas Ehe nicht vorhanden. Offensichtlich gibt es da eine Lücke – etwas, das fehlt. Und das wird erst verwirklicht durch die Erfüllung von jemand anderem. Es fehlt eine Menge zwischen Paroma und ihrem Ehemann, der nur von seiner Arbeit oder sich selbst erzählt. Er fragt niemals Paroma, wie sie den Tag verbracht hat. Aber Rahul, mit dem sie eine körperliche Beziehung hat, erzählt sie von ihrer Kindheit und von ihren Träumen. Es ist ziemlich klar, dass Paroma und ihr Mann mentalitätsmäßig nicht gut zusammenpassen. Und neben der Vulgarität, und anderem, daß die Kritiker dem Film vorwerfen – warum macht Paroma dann einen Selbstmordversuch? Ich denke nicht, dass das Schuldbewusstsein ist. Fakt ist, sie kann keine Erniedrigungen mehr ertragen. Thematisch ist das ein schwieriger und komplexer Film, dessen Perspektive sich nach innen richtet. Ich denke, bevor die Leute den Film als gut oder schlecht abhaken, sollten sie ihn erst mal gesehen haben.
Nach diesem Sturm an Kritik, worüber werden Sie den nächsten Film machen?
Film ist nicht einfach gute Fotografie, gute Schauspieler, gute Musik oder ein gutes Drehbuch – er muss auch was zu sagen haben. Damit meine ich nicht, dass er irgendeine Moral predigen soll. Ich habe da eine eigene Geschichte über eine Frau, eine Brahmanin. Es gab viele Arten von Folter an solchen Frauen, wenn sie schwer zu verheiraten waren. Manchmal wurden sie an alte Männer verheiratet (die Geschichte spielt natürlich im letzten Jahrhundert). Sie wurden lebendig verbrannt, wenn ihr Ehemann gestorben ist –Sati. Es gab Fälle, da wurden die Frauen mit Kindern verheiratet. Es gab sogar sehr seltene Beispiele (in der Tat wissen wir von so einer Person, die noch lebt) dass ein Mädchen das deformiert oder behindert war und daher nicht verheiratet werden konnte oder bereits laut ihrem Horoskop verwitwet war. Dann wurde sie mit einem Banyan-Baum verheiratet. Man nannte das Aswatha Virah. In meiner Geschichte geht es um so ein Mädchen. Sie war stumm und es war schwierig für ihre armen Verwandten, sie zu verheiraten. Als sie schliesslich arakshanya wurde (nach dem heiratsfähigen Alter) wäre die Familie verbannt worden, wenn sie das Mädchen nicht verheiratet hätten. So vermählen sie sie mit einem Baum. Ich denke, das könnte eine interessante Erforschung der Psyche einer Frau sein. Durch ihre Stummheit war sie den anderen stummen Kreaturen nah. Es ist eine ziemliche Herausforderung für einen Filmemacher, ihre Beziehung zu einem Baum zu erforschen und zu den Leuten, die sie umgeben. Und die körperliche Beziehung – Ich meine, was ist mit den emotionalen und körperlichen Bedürfnissen dieser Frau?
Aus dem Englischen übersetzt von Rüdiger Tomczak
Anmerkungen:
Sati ist eine Hindu-Praxis, in der Witwen lebendig mit dem Leichnam ihres Mannes verbrannt werden. Diese Praxis wurde 1830 von der britischen Kolonialverwaltung verboten. Heute ist es laut indischem Gesetz natürlich verboten und auch jede Verherrlichung oder indirekte Teilnahme ist strafbar. Sati ist auch gleichzeitig der Titel von Aparna Sens drittem Film, über den sie im letzten Teil des Interviews redet.
An einer Stelle erzählt Sen von einer anderen Filmidee, die sie gerne umsetzen würde, die über die Geschichte einer Frau, die bereits geschieden ist und ihrer ehemaligen Schwiegermutter. Auch den gibt es inzwischen, Paramitar Ek Din (internationaler Titel: House of Memories, 2000). Das sollte Aparna Sens 5. Film werden.
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