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Als ich vor kurzem einmal wieder Our Neighbour, Miss Yae gesehen hatte, da war das einer von diesen seltenen Momenten, wo man nicht genau weiß, was da eigentlich gerade passiert ist; aber als die Abblende kam, nach dem letzten Bild mit der Kamera in den wolkenverhangenen Himmel hinauf – obwohl sich doch, wenn nicht alles, so doch so manches zum Guten aufgelöst hatte – war ich den Tränen nahe und zutiefst gerührt. Dabei war da gar nichts wirklich Rührseliges passiert, oder gar aufwühlend Melodramatisches. Der Film endet so, wie er anfängt, zumindest auf der Tonspur. Eine liebliche, langgezogen sehnsuchtsvolle Geigenminiatur, die von etwas Herzschmerz aus dem Leben kleiner Leute der unteren Mittelschicht aus irgendeiner japanischen Vorstadt in der Nähe von Tokio verkündet. Einmal sagt die Mutter, heute sei das Wetter so klar, man könne den Fuji sehen, aber das muss man glauben. Im Film taucht er nicht auf. Das ist kein Film für nationale Monumente. Hier wirken Dinge und Kräfte, die man nicht unbedingt auf den ersten Blick sehen kann – auch wenn sie gefühlt sehr groß sind.

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Mit dieser Geigenmusik aus dem Off beginnt, wie gesagt, der Film, und mit einem Kameraschwenk vor einem typisch ländlichen, traditionellen japanischen Holzhaus mit Schiebetüren und Tatami-Matten. In einer Gegend, die schon etwas Provinzielles hat. Über zwei junge Männer hinweg, die sich auf einer Wiese einen Baseball zuwerfen, hin zu einem weiteren Haus, das beinahe genauso aussieht, wie das erste. So wird bereits der Ort der Handlung abgesteckt. Beendet wird die Bewegung in den Zweigen eines Kirschbaums, in der Sonne. Blauer Himmel, das Zirpen der Grillen. Die Blüten bewegen sich leicht im Wind. Diese dann in Nahaufnahme, bevor die Kamera nochmal herausfährt aus dem Bild in eine Totale, und die ganze Szenerie erfasst, die beiden Häuser zeigt, wie sie sich gegenüber stehen. Zwei Familien wohnen hier, eine Gemeinschaft, erschaffen und beglaubigt durch das Bild der Kamera.

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Tonari no Yae-chan wird also von der Musik wie von einer klassischen Rahmenhandlung umschlossen. Egal was passiert, deutet sie an, egal was die Menschen für Dummheiten machen und was sie erleben, die Kamera wird immer wieder diese Geschichten, auch von hier womöglich und von diesem Ort, aufs Neue erzählen können. Der Mensch, der eben noch im Zentrum stand, wird ein wenig kleiner dadurch, wird an seinen Platz gerückt. Man muss ein bisschen nachsichtig sein mit ihm. Diese Narren machen eben immer wieder dumme Sachen zwischendurch. Da darf man sich selbst nicht so wichtig nehmen. Oder: schon wichtig nehmen, aber nicht wichtiger als die Kunst oder das Kino, oder als einen Spaziergang zum Badehaus mit der Nachbarstochter. Dafür braucht es aber nur diese eine kleine Bewegung und gar keine Autorität. Das ist die Melancholie der Vergänglichkeit, die allen Dingen innewohnt, und die wir, beschäftigt mit den üblichen Dingen, nicht im Stande sind, zu sehen. Das mono no aware des Alltags. Der Film aber zeigt es uns. Das ist sein Segen und seine Gnade.

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In diesem Geviert, die Wiese mit den beiden Holzhäusern, da spielt sich beinahe der gesamte Film ab. Und am Anfang steht ein Knall: als nämlich der Baseball, schlecht geworfen, in die Schiebetür kracht und die Scheibe entzwei splittert. Wenig später gibt es einen weiteren Knall: das ist dann die Schwester von Yaeko (Yae-chan, unsere Heldin, gespielt von Yumeko Aizome), die ihren Ehemann verlassen hat und jetzt „genug von den Männern“ hat – und Trost zuhause sucht. Es dauert aber nur einen einzigen Tag, bis sie sich an Keitaro (Den Obinata), den Germanistik-Studenten von nebenan, heranmacht. Der aber eigentlich der Liebling von Yaeko ist. Ein Liebesdrama scheint sich zu entfalten, vor allem da Yae-chan so schüchtern ist und noch nicht weiß, wie man um so eine Liebe kämpft.

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Heute gibt es so architektonische Rahmen nur noch in Ausnahmefällen, ein Film, in dem die Gebäude eine zentrale Rolle einnehmen. Etwa in Christoph Hochhäuslers tollem Unter Dir die Stadt, also in einem Film, der mutig ist und nicht gerade den Konventionen entspricht. Da wäre der Schwenk ein Zoom, und der Zoom ginge auf einen Menschen, auf das Individuum, das sich in einer Menschenmenge bewegt. Am Beginn also hineinzoomend, das Individuum aus der Masse herausschälend, und am Ende wieder in ihre Unübersichtlichkeit verschwinden lassend. Auch ein Rahmen, aber das Zentrum ist eine Person, das Ich. Nicht der Ort, nicht die Topographie. Sondern das Subjekt als sinnstiftende Größe. Das Subjekt als Konzept ist bei Yasujirô Shimazu, und generell im japanischen Alltag, erstmal ein Störenfried.

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Da geht Yasujirô Shimazu (1897-1945) noch mit etwas mehr Respekt und Zärtlichkeit mit seinen Figuren um, mit einem liebevolleren Blick – und lässt dann doch auch das Begehren als Motivator in die Geschichte eindringen; naja, nichts ins Zentrum, aber doch schon bereits in den Titel als Aufhänger oder eye-catcher: Our Neighbour, Miss Yae. Das besitzanzeigende Fürwort „unsere“ stammt allerdings aus der Übersetzung, nicht aus dem Original-Titel. Es ist eher eine Ableitung aus dem Kosenamen-Anhängsel „-chan“, das die Nähe des Sprechers zur genannten Person bekundet. Wie im Deutschen etwa ein „Schwesterchen“. Auch hier also wieder: nicht das Individuum wird im Titel aufs Podest gehoben (wie in Iron Man, Locke, oder John Wick), sondern unser Verhältnis zu ihm, das ein liebevolles ist.

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Eine Geschichte also aus dem Vorort, unterer Mittelstand, der Alltag der kleinen Leute. Also noch einmal: Zwei Geschwisterpaare treffen aufeinander, die junge Yaeko ist am etwas älteren Nachbarn Keitaro interessiert, und plötzlich kommt die ältere Schwester nach Hause. Die Väter sitzen viel herum um trinken Sake, die Frauen machen (noch) Hausfrauendinge und halten die Familie zusammen. Es ist die Zeit des Shomingeki, was in Japan selbst dann shoshimin eiga genannt wird. Es ist der damals noch berühmte Kamata style, benannt nach dem Ort, an dem sich das Studio von Shochiku befand. Tokio taucht nur einmal kurz im Film auf, dafür dann aber richtig: als Kinobesuch, bei dem Yae-chan darauf hofft, näheren Kontakt zu Keitaro aufnehmen zu können. Aber die Schwester ist raffinierter und es gelingt ihr, sich dazwischen zu drängen. Auch das moderne Amerika drängt sich in den Film hinein mit einem Betty Boop-Cartoon, der plötzlich das gesamte Filmbild einnimmt, und der eine Meta-Szene veranschaulicht. Dadurch hat man plötzlich eine gedoppelte Meta-Ebenengestaltung. Der Zuschauer sieht einen Film, in dem die Figuren einen Film im Kino sehen, in welchem die Figuren den Film als Film entlarven und in die dortige Realität hinübertreten. Aber das wird alles flüssig und leicht inszeniert, wie nebenbei. Und ist auch schnell wieder vorbei.

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So schnell wie die Liebelei zwischen der Schwester und Keitaro, dem das alles eigentlich gar nicht so recht ist. Ob ihm hingegen viel an Yae-chan liegt, das wird allerdings ausgespart. Immerhin darf sie am Ende bei der Familie bleiben, während sich die eigene Familie auflöst. Der Vater wird nach Südkorea versetzt, und die Schwester ist wieder auf und davon. Sie hat Reißaus genommen, und sucht woanders ihr Glück. Ohne Zweifel werden Keitaro, der Bruder, und die neue Schwester Yaeko zusammen ins Badehaus gehen, und dabei den schönen sonnenbeschienenen Weg hinabschlendern.

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Heute gilt Our Neighbour, Miss Yae als Klassiker des shomingeki. Und in einer besseren Welt wäre Yasujirô Shimazu so bekannt wie Yasujirô Ozu oder Mikio Naruse. Dass dem nicht so ist, liegt sicher auch daran, dass ein Großteil seines Werkes aus der Stummfilmzeit mittlerweile verloren ist. Überhaupt an irgendeine Veröffentlichung von ihm heranzukommen, ist kein leichtes Unterfangen. Und so kann man sich diesen wunderbaren Film momentan am einfachsten auf Youtube ansehen – in leider ganz schrecklicher Qualität und mit nicht gerade optimalen Untertiteln. Angesichts dieser Tragödie bleibt erstmal nichts anderes übrig, als zu lächeln. So wie es Yae-chan auch macht, als sie merkt, wie ihr die Felle davon schwimmen. Oder wie es Noriko tut, gespielt von Setsuko Hara in der berühmten Szene am Ende von Yasujirô Ozus Tokyo Story auf die Frage hin, ob das Leben nicht enttäuschend sei, mit einem Lächeln zu antworten: Ja, das ist es. Aber so ist eben das Leben.

Michael Schleeh

miss yae

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