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Sie hat sich aufwärmen wollen, sagte man; niemand wußte, was sie Schönes gesehen hatte, in welchem Glanz sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.“ (Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, Hans Christian Andersen)

Die alternde Anglo-Inderin Violet Stoneham ist Lehrerin für Literatur. Ihre Verwandten und Freunde sowie ihre Nichte Rosemary sind bereits in andere Länder ausgewandert. Im Verlaufe des Films stirbt auch ihr Bruder. Die Leitung der Schule, für die sie arbeitet, stuft sie herab. Wegen des Alters, sagen sie. Einige Kolleginnen aber haben den Verdacht, dass ihre ethnische Zugehörigkeit der Grund sein könnte. Ihr eintöniges und einsames Leben teilt sie nur mit ihrem Kater Sir Toby. Ein junges Paar bringt für eine kurze Zeit etwas Abwechslung in ihr Leben. Die junge Frau war einst eine Schülerin von ihr. Der junge Mann gibt vor Schriftsteller zu sein, der einen ruhigen Ort zum Schreiben sucht. Wenn Violet Stoneham arbeitet, hat sich das junge Paar in ihrer kleinen Wohnung einquartiert. Während der Zuschauer schnell an den Absichten des Paares (das vor allem auf der Suche nach einem ungestörten Liebesnest ist) zweifelt, wird diese Konstellation für Miss Stoneham zu einer Art Familienersatz.

Später, als das junge Paar verheiratet ist, Karriere macht und ein eigenes Haus besitzt, melden sich die beiden seltener bei Miss Stoneham. Einmal taucht sie unangemeldet bei Ihnen auf, wird aber schnell abgefertigt, denn das Paar ist ja gerade unterwegs zu einer Verabredung. Einer Eingebung folgend bereitet sie dann ihren vielgerühmten Weihnachtskuchen zu, den sie dem jungen Paar (das Weihnachten angeblich nicht zu Hause sein wird) vor die Tür stellen will, um sie zu überraschen. Der skeptische Zuschauer macht sich allmählich Sorgen um die einsame Frau. Diese beiden Aspekte des Verträumten, Poetischen und ein ernüchternder Skeptizismus durchziehen viele Filme von Aparna Sen.

An dem besagten Tag steht Violet Stoneham tatsächlich mit dem Kuchen vor dem Haus des jungen Paares. Dann eine Grossaufnahme von ihrem Gesicht, die zeigt, dass sie etwas bemerkt hat. Dem folgt eine langsame Annäherung auf das grosse Fenster des Hauses, das den Blick auf ein grosses Wohnzimmer freigibt. Die Fenster sind beschlagen, aber es ist hell beleuchtet und viele Menschen, die feiern, singen und tanzen, sind zu sehen. Mit einer Hand wischt sich Miss Stoneham ein Guckloch auf der Fensterscheibe frei. Und plötzlich wird das Guckloch zur grossen Leinwand. Und das, was diese „Leinwand“ offenbart,  erscheint wie die genaue Projektion dessen, wovon die alte Frau träumt, eine Feier mit Menschen, das Gegenteil ihrer Einsamkeit und Isolierung. Aber die Feier findet ohne sie statt, und niemand vermisst sie. Ob sie bemerkt hat, wie sich der junge Mann und ein Gast ein wenig über das alte Grammophon und die aus der Mode geratenen Schallplatten mokiert, die ihm Miss Stoneham zur Hochzeit geschenkt hat, weiss ich nicht. Wie angewurzelt starren wir mit Miss Stoneham auf diese „Leinwand“. Dann bewegt sich die Kamera rückwärts und die grosse Leinwand wird wieder zum winzigen Guckloch auf der beschlagenen Scheibe. Diese Szene ist für mich schwer zu verkraften. Sie ist einerseits ein hochkonzentriertes Beispiel von reinem Kino, andererseits erleiden hier die Sehnsüchte einer einsamen Frau den Kältetod. Das Verträumte, dieser Blick in ein festlich beleuchtetes Zimmer zieht sich plötzlich zusammen zu der desillusionierten Erkenntnis von Einsamkeit, wie ich es nur aus ganz wenigen Filmen kenne. Dieses Zurückwerfen von einem grossen Moment filmischer Poesie durch zwei vermeintlich einfache Kamerabewegungen zur trostlosen Einsamkeit gibt dem Film ein melancholisches Echo, das sich in das Gedächtnis einbrennt. Jetzt läuft sie allein durch die menschenleere nächtliche Grossstadt. Ein kleiner streunender Hund, der wohl den Kuchen riecht (den sie immer noch mit sich trägt), folgt ihr. Sie zitiert ein wenig aus Shakespeare´s King Lear und dann hört man sie aus dem Off einen Brief rezitieren, den sie an ihre Nichte schreiben wird. Zum ersten Mal in ihrem Leben denkt Violet Stoneham darüber nach, ihre Heimat Indien für immer zu verlassen.

Gerade dieses Zusammentreffen von Poesie und Realismus erinnert mich an das tieftraurige Mätchen von Hans Christian Andersen „Das Mädchen mit den Zündhölzern“. Die Freude des Mädchens an den Bildern, die der Schein der Schwefelhölzer erzeugt, sprang auf mich als Kind über.  Am ersten Streichholz hatte sie sich nur wärmen wollen und fühlte sich wie an einem Ofen sitzend. Aber dann erschafft sie sich alles, was ihr fehlt, mit den Schwefelhölzchen: „Mit einem zweiten wurde an die Wand gestrichen. Es leuchtete, und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Schleier, sie konnte in das Zimmer hineinsehen.“ Zuerst sieht sie in ihrer eigenen Vision ein prächtiges Weihnachtszimmer, doch als ihr die gerade verstorbene Großmutter erscheint, will sie sie wieder sehen und opfert die letzten Hölzchen, um in ihrem Licht mit ihr zu gehen. Der schreckliche Gegensatz zwischen dieser wundervollen Vision und dem nächsten Morgen, der Verständnislosigkeit der Menschen beim Anblick des erfrorenen Mädchens, hat mich als Kind sehr verstört.

Rüdiger Tomczak

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