WhereDidwgo

„Auch wenn Kino für manche Leute so etwas wie oberflächlich und glamourös bedeutet, ist es doch etwas anderes. Ich denke, es ist der Spiegel der Welt“. (Jeanne Moreau)

Auf zwei Methoden ein tieferes Verständnis von einem Film zu erlangen, komme ich in letzter Zeit immer wieder zurück. Mit der ersten Methode meine ich das, was Helmut Färber in einem Fernsehbeitrag (Drei Minuten aus einem Film von Yasujiro Ozu) über Ozu´s Banshun (Später Frühling) gemacht hat. Färber konzentriert sich hier auf eine drei Minuten lange Szene: den berühmten Fahrradausflug. Färber hat von jeder Einstellung ein Foto gemacht und reflektiert über den Rhythmus des Films und wie diese Szene mit dem Ganzen des Films verbunden ist. Er nennt es auch ein Beispiel, das einen Eindruck über die ganze Architektur des Films gibt. Die andere Methode ist eine Serie von Seminaren, die Ernst Schreckenberg für das Kommunale Kino Dortmund gemacht hat. Er nannte sie „Dramaturgie des Films“. Schreckenberg hat vor allem mit Videoauszügen aus Filmen gearbeitet und hat dabei immer kleine Sehhinweise gegeben. Vor allem aber hat er die Bilder immer für sich selbst sprechen lassen. Dabei hat Schreckenberg gleich mehrere Dinge erreicht. Zuerst einmal waren seine Seminare hervorragende Einführungen in ganz spezifische Eigenheiten der vorgestellten Filme. Ein Begriff, den ich nie vergessen habe, ist die „Vernetzungsdramaturgie“. Das sind oft Momente, die man kaum bewusst wahrnimmt. Das Schöne an diesen Seminaren war, daß man sich sehr intensiv mit einem Film beschäftigt hat und gleichzeitig wollte man diesen Film sofort wiedersehen. Das ist eine seltsame Koexistenz zwischen der Analyse und der Freude an einem Film. Das war in den späten Achzigern und es war auch schon so etwas wie eine Vorahnung von dem, was man mit audiovisuellen Essays über Filme heute alles machen kann..

Über Aparna Sen´s Meisterwerk Mr. And Mrs. Iyer habe ich einmal geschrieben, daß Sen´s Ästhetik zur gleichen Zeit analytisch und poetisch ist. Der Film ist sublim erzählt und wunderbar fotografiert, aber gleichzeitig hat man ein sehr starkes Bewusstsein dafür, daß man gerade einen Film sieht. Mit anderen Worten: Ich weiß nicht, was mir mehr Freude macht, den Film immer wieder anzuschauen oder über jede noch so kleine Szene zu reden oder sie zu analysieren. Ich erinnere mich an ein langes Wochendseminar, das Ernst Schreckenberg einmal zu Hitchock´s Meisterwerk Vertigo gemacht hat. Einen ganzen Nachmittag lang haben wir den Film systematisch gesehen. Schreckenberg hat den Film immer wieder angehalten. Auch wenn man das schon unbewusst gespürt hat, nach diesem Nachmittag wusste man, warum dieser Film einer der grössten Suspense Thriller in der Geschichte des Films ist und was Hitchcock´s Filme von so vielen anderen Thrillern unterscheidet. (1)

Mr. and Mrs. Iyer ist unter den Filmen, die in den letzten 20 Jahren gemacht wurden, ein wahres Fest, was die „Vernetzungsdramaturgie“ betrifft. Der Film ist unter anderem auch ein Road Movie, dieses Subgenre, das nicht nur viele andere Filmgenres berührt, sondern oft auch eine Analogie zum Kino selbst ist. (2) Der Film ist eine Reise voller Erfahrungen und besonders die etwa 30 Minuten lange Szene mit der Busreise bietet mit der immer präsenten riesigen Windschutzscheibe des Busses eine Analogie zur grossen Leinwand.

Die Teehaus-Szene findet im letzten Drittel des Films statt und dauert etwa 4,5 Minuten. Die Reise der jungen verheirateten orthodoxen Hindu-Frau Meenakshi Iyer und des Muslimen Raja ist fast zu Ende. Beide haben sich als Fremde getroffen. Aber als fanatische Hindus den Bus gestürmt haben um auf Muslime Jagd zu machen, gibt Meenakshi Raja als ihren Ehemann aus und rettet somit sein Leben. Von diesem Moment an geben sie sich als verheiratetes Paar aus. Das ist zunächst einmal eine wichtige Wendung in der Erzählung, führt später aber zu ganz besonderen Interaktionen zwischen diesem „fiktiven“ Paar, das ein nicht gelebtes Leben vorspielt und dem Zuschauer, der weiss, dass hier etwas vorgespielt wird. In dem ganzen Film wechseln sich immer wieder Szenen voller Unruhen, Angst und Spannungen mit kurzen Momenten des Friedens ab. Das gibt den Protagonisten etwas Zeit, sich mit sich selbst oder miteinander zu beschäftigen. Die Teehaus-Szene ist eine davon. Sie findet während eines Nachmittags statt, wenn die Ausgangsperre für wenige Stunden aufgehoben ist. Beide sitzen im Teehaus mit Meenakshi´s Baby Santanam. Das Teehaus hat verschiedene Fenster und Durchgänge, die den Raum von der Außenwelt trennen . Man blickt wie auf mehrere Leinwände. Und diese Leinwände sind wie Gucklöcher auf das Leben, das draußen auf der Strasse unabhängig von der Fiktion des Films stattfindet. Das „Paar“ trifft auf eine Gruppe von jungen Mädchen, die sie von der Busreise her kennen und die sich nun zu ihnen gesellen. Raja und Meenakshi laden sie zu einem Tee oder Kaffee ein.

Die jungen Mädchen sind vor allem neugierig auf die „Liebesgeschichte“ zwischen Raja und Meenakshi (die nur wenige Jahre älter als die jungen Mädchen ist), die fast zu jung ist, um schon verheiratet zu sein. Sie sitzen an einem Tisch, einige der Mädchen Meenakshi und Raja direkt gegenüber. Die Mädchen wollen also vor allem eine Geschichte erzählt bekommen. Im Gegensatz zu uns, den Zuschauern wissen die Mädchen nichts über die Umstände, die Raja und Meenakshi zu einem „Paar“ werden ließen. Die ganze Szene ist regelrecht lichtdurchflutet. Die Art, wie die Personen arrangiert sind, ruft ein sehr archaisches Bild in mir hervor – und zwar von der Faszination, Geschichten zu lauschen, die wahrscheinlich zurückgeht auf die ersten nächtlichen Lagerfeuer in der Geschichte der Menschheit. Die Szene ist auch vor allem ein Fest für die Augen (der Kameramann war Goutam Ghose, ebenfalls ein bekannter Indischer Filmemacher). Man kann den Personen über die Schultern gucken oder durch die Fenster nach draußen sehen, wo das Leben (ausserhalb der Filmerzählung) seinen eigenen Weg geht.

Wir wissen auch, dass der Film sich langsam seinem Ende nähert und das macht diesen wundervollen Moment nur noch vergänglicher. Mit jedem Detail, das das „Paar“ von ihrer „Liebesgeschichte“ erzählt, werden die Mädchen aufgeregter und wollen immer noch mehr wissen. Die Kamera bewegt sich sanft zwischen den Personen hin und her. Manchmal wird die Sanftheit der Szene von harten Schnitten untermauert. Man sieht die Szene aus den unterschiedlichen Perspektiven der Personen. In einer Einstellung sieht man die Hinterköpfe einiger Mädchen, ihr Blick ist auf Raja und Meenakshi gerichtet. Da sehen sie auf die beiden wie auf eine große Leinwand,vor der sie vielleicht etwas zu nahe sitzen. Die Romanze wird vor allem hervorgehoben durch die Imagination der Mädchen und die fiktive Geschichte eines Paares lassen die beiden Darsteller Rahul Bose und Konkona Sensharma oft als Projektion erscheinen. Nach einem 180 Grad Schnitt blickt man auf die aufgeregten Gesichter der Mädchen aus der Perspektive von Meenakshi und Raja. Das ist ein wenig als blickten Sensharma und Bose auf ihr Publikum und dessen entrückte Gesichter zurück. Schon fast unheimlich surreal, blickt der Film selbst zurück: auf die in unseren Gesichtern ablesbaren Emotionen, die er selbst geschaffen hat. Da ist eine Art von Chemie zwischen der prosaischen Präsentation von realen Menschen, die Fiktion darstellen, den realen Dinge im Bildrahmen und der Imagination, hervorgerufen durch die Mädchen und sogar in uns – entgegen unseres Wissens. Die Szene trennt die Geschichtenerzähler vom Publikum und verbindet sie dann wieder durch zwei Möglichkeiten Kino zu erleben. Es ist eine seltsame Choreographie von Blicken der sichtbaren Personen, der des Films und unsern eigenen Standpunkt..

Da ist immer beides in dieser Szene: man sieht höchst konzentrierte Schauspieler bei ihrer Arbeit, so wie Musiker bei einem Konzert. Doch geht es hier auch um das, was diese Arbeit dann schließlich hervorruft. Hier gibt es eine seltene Gleichberechtigung zwischen der Wahrnehmung von Wirklichkeit und dem Bedürfnis von einem Film verzaubert zu werden.

Raja beginnt eine Geschichte von romantischen Vollmondnächten während der „Flitterwochen“ in Südindien zu spinnen und mit Details auszuschmücken. Meenakshi versinkt allmählich in Schweigen. Und wieder können wir durch das Fenster hinter Raja schauen, wo das Leben einfach weitergeht. Auch wenn er jetzt etwas übertreibt, trifft Raja einen ganz bestimmten Nerv des Films. Wir haben genug über Meenakshi erfahren und auch über ihr langweiliges Eheleben. Dieser Moment ruft eine fast schon unheimliche Sehnsucht nach einem Leben hervor, das Meenakshi niemals leben wird. Eine einzige Bemerkung von Raja löst eine ganze Kettenreaktion von Gefühlen aus, einige kann man benennen, andere nicht. „We did not need oil lamps Meenaksi, did we?“ Der völlig entrückte Blick von Konkona Sensharma´s Meenakshi und wie sie dabei gleichzeitig versucht, in die Wirklichkeit zurückzufinden, ist eines der vielen Wunder in diesem Film. Ihr Gesicht ist in einer Großaufnahme zu sehen, ihre bestimmte Position im Raum ist verschwommen, isoliert sie von allem anderen. Ihr Gesicht ist wieder zu einer Projektion geworden. Diese Einstellung ist sehr bezeichnend für das faszinierende Paradoxon des Films: Eine der bezauberndsten Einstellungen, die aber gleichzeitig die Illusion eines dreidimensionalen Raums für einen Moment ausser Kraft setzt. Die ganze Szene führ zu einem Moment von reinem Kino. Das ist nicht nur eine meisterhaft komponierte Kammerspielszene, eine der Ozu-ähnlichsten Szenen, die ich jemals in einem Indischen Film gesehen habe. Vor allem aber ist es eine intensive Meditation über das Kino in all seinen Facetten. Aufgelöst wird die Szene durch Gelächter. Das einjährige Kind von Meenakshi hat den ganzen Zuckertopf leer gegessen. Sogar Meenakshi stimmt in das Lachen ein.

Es gibt noch viele andere grossartige Szenen, die einen genaueren Blick verdienen. Ich habe mich für die Teehaus-Szene entschieden, da sie beispielhaft die Dichte zeigt, in der dieser Film visuell seine Geschichte erzählt, aber auch viel von einer inspirierten Verspieltheit hat, die vor allem bei erfahrenen und gereiften Filmemachern zu sehen ist. Diese Verspieltheit kann mit beiden Aspekten des Kinos etwas anfangen, der Möglichkeit von Illusion und Verzauberung, aber auch mit den Beschränkungen. Aber es ist nicht nur  die Kunst von Aparna Sen, die mich über die Jahre so begeistert hat. Es ist auch dieses tiefe Verständnis des Kinos in ihren Filmen.  Das Eintauchen in eine imaginäre Welt in einem trance-ähnlichen Zustand und das Auftauchen aus ihr gleichermaßen.

(Die englische Version erschien im Juni 2018 in der Indischen Online-Zeitschrift Filmbuff)

Rüdiger Tomczak

Bemerkungen:

  1. In der Tat ist Vertigo nicht nur einer der repräsentativsten Filme Hitchcocks (unter anderem auch durch seine seltsame erotische Obsession für einen bestimmten Frauentyp), sonder der Film ist auch eine sehr genaue selbstreflektierende Meditation über den oft auch ausbeutenden blick, den ein Film haben kann, sein eigenes Werk eingeschlossen. Ich sehe heute Vertigo sogar noch mit größerem Vergnügen als früher.
  2. Das einzige Beispiel an europäischen Filmen der letzten Jahre, das mir einfällt, wäre das deutsche Roadmovie 303 (2018) von Hans Weingartner.

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