I.
“When I was growing up, there were two things that were unpopular in my house. One was me, and the other was my guitar.”
(Bruce Springsteen)
Zu einer Handvoll von neuen Lieblingsfilmen, denen ich im letzten Jahr begegnet bin, gehört Dutta Vs Dutta, ein Film des bengalischen Liedermachers, Sängers, Schauspielers und Regisseurs Anjan Dutt.
Ich erinnere mich an meinen ersten, nicht schriftlich festgehaltenen Gedanken als ich über einen früheren Film von Anjan Dutt, Bow Barracks Forever für meinen englischen Blog geschrieben habe. Seltsamerweise kamen mir zwei unterschiedliche Regisseure wie John Cassavetes und Frank Capra in den Sinn, die nur eins gemeinsam hatten, nämlich die gegenseitige Bewunderung ihrer Filme. In meiner Einbildung stellte ich mir vor, dass ein gemainsamer Film von Capra und Cassavetes so aussehen könnte wie Bow Barracks Forever.
Wie die meisten Filme , die ich bisher von Anjan Dutt gesehen habe, ist auch Dutta Vs Dutta eine Tragikomödie. Da der Film diesmal aber offensichtlich sehr stark autobiographisch inspiriert ist, prallen manchmal das Komische, Burleske und das Tragische heftiger zusammen.
Der Film spielt in den frühen 1970er Jahren in Kolkata, einer Zeit die weltweit von Protestbewegungen, Rockmusik – und wie hier in Kolkata konkret auch von Auseinandersetzungen zwischen radikalen Maoisten (Naxaliten genannt) und der stark zum autoritären Staat tendierenden Politik der Ministerpräsidentin Indira Gandhi geprägt war.
Rono, das Ego Anjan Dutts als Teenager muss die Schule in Darjeering verlassen, da sein hochverschuldeter Vater das Schulgeld nicht bezahlen konnte. Zurückgekehrt in das ihm zunächst einmal verhasste Kolkata und in das Haus, in dem sich sein Vater mit seinem Bruder bekriegt, beginnt der Film.
Anjan Dutt selbst ist in einer denkwürdigen Doppelrolle zu sehen. Er spielt Ronos Vater (also seinen eigenen) und gleichzeitig spricht er den subjektiv- erzählenden Kommentar des erwachsenen Rono. Biren Dutta ist ein Möchtegern-Anwalt, ein Trinker und Choleriker, der mit viel bürgerlichem Stolz den finanziellen Ruin seiner Familie zu überspielen versucht. Allein diese Doppelrolle, der sichtbare Biren und des unsichtbaren Anjan Dutt selbst hat eine eigentümliche Spannung. Zumindest das bengalische Publikum muss sich dieser seltsamen Doppelrolle bewusst gewesen sein, denn gerade die Stimme von Anjan Dutt ist dort sehr bekannt.
Thematisch könnte man Dutta Vs Dutta ein wenig mit Oskar Roehlers sehr interessantem Quellen des Lebens vergleichen. Doch Anjan Dutt´s Film erscheint mir verspielter, womit ich auch poetischer meine. Es gibt hier eine besondere Dynamik zwischen Drama,Komödie und persönlicher Biografie, die mich sofort eingenommen hat. Biren selbst ist ein Schauspieler, jemand der vorgibt etwas zu sein, was er nicht ist. Rono (Ronodeep Bose) und die Stimme des Erzählers von Anjan Dutt dagegen zeugen von dem was gerade wirklich empfunden wird oder wurde. Biren möchte seinen Sohn nach England schicken, um aus ihm einen richtigen Anwalt zu machen, ein Wunsch, den Biren selbst für sich selbst nie verwirklicht hat. Da Rono, der lieber Schauspieler werden will, heftig dagegen rebelliert, entsteht eine Reihe von komischen und traurigen Konflikten.
Zunächst erscheint der Film sehr anekdotenhaft erzählt. In diesen Anekdoten verstecken sich aber oft ganz wichtige erzählerische Wendungen und nach einiger Zeit muss ich doch eher an Hou Hsiao Hsiens autobiographischem Meisterwerk Tong Nien Wang shi (Eine Zeit zu Leben und eine Zeit zu Sterben, 1985) denken.
II.
The changing of sunlight to moonlight
Reflections of my life, oh, how they fill my eyes
The greetings of people in trouble
Reflections of my life, oh, how they fill my mind
(song „Reflections of my life“ der Band Marmalade)
Obwohl es sich hier um einen autobiographischen Film handelt, gibt es nicht wirklich Nebenfiguren, sondern jede dieser Figuren hat seine Momente, in denen sie im Zentrum des Films steht und unvergesslich werden wird. Die alkoholsüchtige Mutter, ein geistig behinderter Onkel, die zänkische Frau des anderen Onkels mit denen Ronos Familie in einer Fehde lebt, die Geliebte Birens, Ronos erste Liebe oder der Grossvater, der einmal unverhofft auftaucht. Viele dieser Figuren sind nur einige Minuten zu sehen und bleiben dennoch im Gedächtnis haften.
Anjan Dutt ist ein furchtloser Filmemacher, der in einem Film ganz unterschiedliche Elemente einfügen – und sich sogar Übertreibungen leisten kann, ohne dass der Film etwas von seiner Stimmigkeit verliert. Die Magie, die den Film schliesslich zusammenhält ist wie ein geheimnisvolles Schwerkraftfeld.
Allein Anjan Dutt´s Darstellung des Biren ist eine einzige schauspielerische tour der Force und doch liegt gerade in dieser oft überspitzten Darstellung gleichzeitig eine nahezu analytische Haltung zu seiner Figur.„My family is my church and my children are my gods“, tönt er in grossen Gesten als Möchtegern- Mann von Welt mit Whiskyglas und Zigarre.
Während Rono allmählich versucht seinen Platz in der Welt zu finden, wird Biren „seine Welt“ im Verlauf des Films Schritt für Schritt verlieren. Am Ende wird er nicht einmal die bürgerliche Fassade aufrecht erhalten können.
In einer ungeheuer dichten Szene kommt es zu einem heftigen Streit zwischen Rono, als er seinen Vater und dessen Geliebte überrascht. Rono behaupet sich, auch wenn er mit seinen Kräften fast am Ende ist und Biren regelrecht demaskiert. Es gibt zwei sehr ähnlich intensive Szenen in Bow Barracks Forever zwischen Sohn und Mutter und in Ranjana Ami Ar Asbona zwischen einer jungen Sängerin und ihrem alternden und bezeichnenderweise vaterähnlichem Idol. Die Art, wie sich hier die Figuren behaupten müssen, erscheint fast als Kampf ums Überleben. Wie in Dutta Vs Dutta wird die Autorität der Eltern für einen Moment ausser Kraft gesetzt. Erinnern wir uns an die wundersame „Bonsai-Sequenz“ in Ozus Dekigoro (Eine Laune), wo der bloss gestellte Vater sich sogar bereitwillig von seinem Sohn schlagen lässt, bekommt man ein gutes Bild von der Intensität dieser Szene in Anjan Dutt´s Film. Es gibt immer wieder solche Momente in Dutta Vs Dutta. Inmitten dieses wundersamen Netzwerkes aus berührenden und komischen Momenten werde ich manchmal aus einer traumgleichen Trance gerissen und daran erinnert wie ernst es Anjan Dutt mit diesem Film ist. Im Kino geht es eben oft im wahrsten Sinne des Wortes um Leben oder Tod.
Der Film hat auch eine Dynamik zwischen eben dieser fast ungehemmten Lust am Fabulieren und Momenten, wo der Film wieder ganz zurückgenommen erscheint. In diesen Momenten bekommt der Film eine besondere Zartheit und immer dann wenn die Maske des Fabulierens ausser Kraft gesetzt ist.
Wie der Film mit diesen unterschiedlichen Polen jongliert, erscheint mir als eines seiner Wunder. Vielleicht ist das, was den Film mit einer fast schlafwandlerischen Sicherheit immer wieder zusammenhält so etwas wie seine Ökonomie. Neil Dutt´s Musik besteht vor allem aus vier Liedern und einem zentralen Titelthema. Die Lieder und das Thema sind sehr sparsam auf den Film verteilt und doch sind sie einprägsam und unvergesslich.
Nicht zuletzt handelt Dutta Vs Dutta auch von einem grossen Haus, dem Besitz der Familie Dutta. Der Film selbst ist wie ein grosses Haus gebaut, in dem die verschiedenen Personen wie Räume davon sind. Und dieses „Filmhaus“ ist wiederum eingebettet in indische Geschichte der frühen 1970er Jahre.
Der Wandel der Zeiten macht sich erst gegen Ende des Films bemerkbar. Auf der Strasse oder beispielsweise in den Häusern, in denen Rono eingeladen wird, haben diese Veränderungen längst Einzug gehalten. In dem Haus von Ronos Freund, einem Sänger hängen Bilder von Godard an der Wand. Mit einem Schulfreund hört Rono hier zum ersten Mal das berühmte King Crimson-Album In The Court of the Crimson King. Das ist eine der Sequenzen in Schwarz-Weiss mit leichtem Sepia-Ton. Das ist überhaupt wieder so ein Eigending mit dem Film, der oft zwischen Farbe und Schwarz Weiss und manchmal Sepia Tönen wechselt. Einmal springt einen die Vitalität dieser Figuren regelrecht an, im nächsten betont der Film seinen Erinnerungscharakter, der gleichzeitig auch die auf Vergänglichkeit der Menschen und Dinge hinweist.
Während Biren am Ende immer mehr verliert, verlässt der Film immer mehr das Anekdotische und verdichtet zu dem autobiographischen Aspekt. Gegen Ende erscheint das Haus der Duttas verändert. Die alkoholkranke Mutter ist fort, der geisteskranke Onkel ist tot. Die Stimme von Anjan Dutt ist wieder zu hören. Sie erzählt davon, dass er dabei sei, seinen Platz zu finden, in diesem Haus und in dieser Stadt, die er beide immer gehasst hatte. Er mache jetzt Filme, die aber seine Eltern und Verwandten nicht mehr kennenlernen werden. Er habe „sein Kino“ gefunden und für einen Film sogar einen National Award bekommen. Das ist ein sehr berührender Monolog, der von der Zeit, in der dieser Films spielt, um Jahrzehnte in die Zukunft entrückt ist.
III.
„Mutter hatte, dachte ich, einen langen und schweren Kampf allein ausgeführt und war nun zu diesen Knochenresten geworden.“ (Yasushi Inoue, Meine Mutter)
Am Ende wird Biren tagelang in Polizeigewahrsam genommen, da er sich einer Hausdurchsuchung widersetzt hat. Die Polizei hat nach einem Schulfreund Ronos, der sich den Naxaliten angeschlossen hatte, gefahndet, den sie in dem Haus vermutet hat. Völlig gebrochen kehrt Biren nach ein paar Tagen zurück. Ein Schlaganfall macht ihn schliesslich zum Pflegefall. Rono, der seinen Vater pflegt und ihm die Medizin zuführt, erzählt ihm, dass er seine erste Rolle in einem Film von Mrinal Sen bekommen hat und sogar 5000 Rupien dafür bekommen wird. Ob der Vater ihn versteht, weiss man nicht. Von der Autorität des Vaters und dem Hass des Sohnes auf seine Herkunft ist nicht mehr viel geblieben. Nachdem er seinen schwerkranken Vater zu einem kleinen Gehversuch ermuntert hat umarmt er ihn und mit dieser Umarmung scheint er gleichzeitig seinen Frieden zu machen mit seiner Geschichte und dem Ort seiner Herkunft, von der er immer versucht hat, fortzukommen.
Das ist ein unglaublicher Schlussmoment, wo sich der gesamte Reichtum des Films auf zwei Körper reduziert. Das macht mich völlig fassungslos.
In diesem Moment wird der Film selbst so verletzlich, wie die beiden Personen im Film.
Das geht mir so nah wie dieses Bild in dem Film Sona mo hitori no watashi (Sona, the Other Myself) von Yang Yonghi, wo man sie am Sterbebett ihres Vaters sieht, während ihre Stimme aus dem Off den Tod des Vaters verkündet.
Das muss schon seine Gründe haben, dass mir Dutta Vs Dutta einfach nicht mehr aus dem Kopf geht.
Rüdiger Tomczak
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