Image-Eastwood

von Andrea Grunert

Als ich vor vielen Jahren an meiner Dissertation über Clint Eastwood (1) arbeitete, bezeichnete der Leiter eines deutschen Filminstituts dieses Unterfangen als „abenteuerlich“. Eastwoods Weg zur Anerkennung als bedeutender Regisseur war trotz der Unterstützung, die er bereits für seinen ersten Film Play Misty for Me (Sadistico, 1971) in Frankreich durch Pierre Rissient und Bertrand Tavernier erhalten hat, hart und steinig. Noch vor kurzem musste ich mir sagen lassen, dass ich anstelle eines Buches über Eastwood (2) doch besser eines über „einen interessanteren Regisseur“ hätte schreiben sollen.
Eastwood bleibt bis heute ein von vielen verkannter Filmschaffender. Der folgende Text mag die Zweifler nicht überzeugen. Doch vielleicht lädt er den einen oder anderen dazu ein, sich Eastwoods Filme ein wenig näher anzuschauen. Schließlich sind es die Filme, um die es geht. Und darum, genauer hinzusehen…

Die Entstehung einer persona
Clint Eastwood: Starschauspieler, Kassenmagnet der 1970er und 1980er Jahre in den USA (und auch anderswo), Regisseur, Produzent und gelegentlich auch Komponist von Filmmusiken. Seine Karriere begann in den 1950er Jahren eher holprig mit kleinen Rollen in B-Produktionen. Dann kam die Fernsehserie Rawhide (Tausend Meilen Staub, 1959-1965, 217 Episoden), die Eastwood erste Bekanntheit verschaffte. Es folgte der internationale Durchbruch mit Sergio Leones Per un pugno di dollari (Für eine Handvoll Dollar, I/E/D, 1964). In diesem und zwei weiteren Spaghettiwestern von Leone (3) wird die Basis von Eastwoods persona geschaffen: die des wortkargen Helden, der viel gewaltbereiter agiert als die Protagonisten der amerikanischen Western, denen der Code Hays Grenzen auflegte. Zurück in den USA passt Eastwood diese radikalisierte Version des Westernhelden dem Hollywoodkino an. Hatte der namenlose Held der Leone-Western, der für Geld tötet, einen anarchischen Zug, so ist das Motiv der Hauptfigur in Ted Posts Hang’Em High! (Hängt ihn höher, 1968) Rache. Die alttestamentarische anmutende Moral des Rachethemas wird allerdings in Frage gestellt, weil die egoistischen Motive des Rächers und somit seine dunkle, obsessive Seite sichtbar werden. Seit ihrem von James Fenimore Cooper erdachten Urvater Natty Bumppo, dem „Lederstrumpf“, sind amerikanische Helden widersprüchliche Figuren. Sich auf Coopers Romanfigur beziehend schrieb D. H. Lawrence: „Die amerikanische Seele ist in ihrem Wesen hart, einzelgängerisch, stoisch und mörderisch.“ (4) Was in den bedeutenden Western der Vergangenheit nie völlig verdeckt war, kommt In Eastwoods Filmen vollständig an die Oberfläche. In Don Siegels Dirty Harry (1971) trägt der Polizist Callahan die Mehrdeutigkeit der Helden aus dem Amerika der frontier (5) in die Straßen von San Francisco der Gegenwart. Callahan ist der Held für die von Richard M. Nixon hofierten „schweigenden Mehrheit“, der seine Abscheu vor liberalen Ideen im Justizwesen, vor Hippies, revoltierenden Studenten und Homosexuellen deutlich ausdrückt. Er kämpft nicht wie der Westernheld in einem Umfeld, in dem das Gesetz zu schwach oder gar nicht vertreten ist, sondern gegen einen bürokratischen Apparat, der das, was er als Gerechtigkeit erachtet, behindert, und seiner Meinung nach Kriminellen mehr Rechte zugesteht als den Opfern.
Siegels Film hat für diese Haltung harsche Kritik geerntet, die bis zum Vorwurf des Faschismus reichte (6). Dennoch ist das nur eine Seite der Medaille, denn Dirty Harry konfrontiert den Zuschauer mit den psychischen Abgründen seines gewalttätigen Helden, der dem Serienmörder, den er verfolgt, nicht unähnlich ist, was Siegel dramaturgisch wie visuell herausstellt. Das Doppelgängermotiv, das in Siegels Film angedeutet wird, steht im Mittelpunkt von Richard Tuggles (7) Tightrope (Der Wolf hetzt die Meute, 1986). Eastwood spielt erneut einen Polizisten, doch diesmal keinen Superhelden mit einem Hang zur Gewalt, sondern einen Charakter, der von seiner dunklen Seite vereinnahmt zu werden droht und sich fragen muss, ob er der Prostituiertenmörder ist, der in New Orleans sein Unwesen treibt. Für Wes Block wird die Jagd nach dem Mörder zu einer inneren Reise in die eigenen Abgründe sexueller Begierde und Gewaltbereitschaft. Dass der Polizist am Ende den Mörder in einem Zweikampf tötet, kommt einer inneren Befreiung gleich, was auch optisch ausgedrückt wird. Die Silhouetten der Kämpfenden verschmelzen in der nächtlichen Szenerie zu einem Körper. Am Schluss wird der des Mörders von einem vorbeifahrenden Zug erfasst, während Wes den abgetrennten, noch zuckenden Arm des Mannes, dessen Hand seinen Hals umklammert hält, von sich reißt, so als sei er ein Teil seiner selbst.

Heldenvariationen
Tod und Sexualität treffen in diesen Filmen mit Eastwood aufeinander, wobei – gemäß der Tradition des amerikanischen Schauerromans und anderer Werke der amerikanischen Literatur – Gewalt Sexualität ersetzt (8). Tightrope führt dieses Prinzip vor und führt es weiter, indem Wes Heilungsprozess angedeutet wird, denn er findet Verständnis und möglicherweise Liebe bei der Psychologin Beryl (Geneviève Bujold). Frauen sind in den Filmen der 1970er Jahre sehr eindeutig Mittel, die von Eastwood dargestellten Charaktere zu bereichern, zu variieren und zu verändern. In Dirty Harry ersetzt die Hatz auf den Serienmörder Scorpio (Andy Robinson) fehlendes Sexualleben, was von Scorpios effeminierten Äußeren unterstrichen wird. In Eastwoods erster Regiearbeit Play Misty for Me wird die Figur, die Eastwood spielt – ein Radiomoderator, der eine lokale Berühmtheit ist (9) – von einem weiblichen Fan (Jessica Walter) gestalkt. Frauen repräsentieren ganz im Sinn der Schauerliteratur die wesentliche Gefahr für den Helden. Sie sind die Verkörperung seiner dunklen Triebe, die es zu unterdrücken gilt (10). In Don Siegels The Beguiled (Betrogen, 1971) wird der von Eastwood gespielte Protagonist das Opfer einer Gruppe von Frauen und stirbt, nachdem er zu keinem Zeitpunkt die mit seinem Darsteller assoziierte männliche Dominanz und hegemoniale Männlichkeit demonstrieren konnte (11).
The Beguiled, Play Misty for Me und Dirty Harry sind innerhalb eines Jahres – 1971 – in die amerikanischen Kinos gekommen. Dirty Harry festigt Eastwoods persona als aggressiven Helden und macht ihn zum Kassenmagneten. Die beiden anderen Filme stellen diese persona in Frage, zeigen die Brüchigkeit männlichen Selbstverständnisses und Heldentums. Von Beginn seiner Karriere als Regisseur, der bislang 39 Filme realisiert hat, nimmt Eastwood Risiken auf sich. Nicht nur, dass er seine persona ständig variiert wie z.B. in seinem sechsten Film The Gauntlet (Der Mann, der niemals aufgibt, 1977), in dem er die Callahan-Figur und das Polizeifilmgenre in einer modernen Screwball Comedy persifliert. In Honkytonk Man (1982) spielt er einen an Tuberkulose leidenden Countrysänger im Amerika der Depressionszeit. Ähnlich wie The Beguiled wurde der Film kein Kassenerfolg: Das Publikum wollte „seinen“ Helden nicht sterben sehen. Dennoch hat Eastwood sich durchgesetzt und diese Projekte realisieren können. So wie er es gewagt hat, die Hauptrollen in 15:17 to Paris (2018) mit Laien zu besetzen (13).

Eastwoods vier Western
Für viele bleibt Eastwoods Name mit dem Westerngenre verbunden. Dabei sind unter seiner Regie nur vier Western entstanden: High Plains Drifter (Ein Fremder ohne Namen, 1973), The Outlaw Josey Wales (Der Texaner, 1976), Pale Rider (Pale Rider – Der namenlose Reiter, 1985) und Unforgiven (Erbarmungslos, 1992). In High Plains Drifter spielt Eastwood die Rolle des wortkargen Fremden, den er bislang so erfolgreich verkörpert hat, in einer äußerst gewalttätigen Variante als Mann, der nicht nur eine Bande brutaler Verbrecher zur Strecke bringt, sondern die Bewohner einer Stadt bestraft, die einem Mord tatenlos zugesehen haben. Das Thema der feigen und egoistischen Bürger erinnert an Fred Zinnemans High Noon (Zwölf Uhr mittags, 1952), doch Eastwood geht einen Schritt weiter, indem er seinen Protagonisten als Rächer auftreten lässt, der eine Auge-um-Auge-Justiz ausübt. Zinnemans Film liefert ein Porträt der USA während der Kommunistenhatz durch McCarthy. High Plains Drifter kann im Kontext des Vietnamkrieges gelesen und als die Kritik einer Gesellschaft gesehen werden, die ihre jungen Männer in den Krieg geschickt hat und sich dieser Verantwortung nun zu entziehen versucht.
In The Outlaw Josey Wales ist der Sezessionskrieg Platzhalter für den gerade beendeten Krieg in Südostasien (13). Josey Wales wird als hart arbeitender Farmer und Familienvater in Bildern eines pastoralen Idylls eingeführt. Die friedliche Atmosphäre wird von einer Gruppe von Marodeuren zerstört, die Joseys Frau und Sohn töten und seine Farm zerstören. Josey wird zum erbarmungslosen Rächer und zum Getriebenen. Doch anders als in High Plains Drifter wird er – wenngleich unfreiwillig – zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft von Außenseitern, die sich aus zwei Native Americans, einer älteren Frau, einem Mexikaner, einer jungen neurotischen Frau und einem herrenlosen Hund zusammensetzt. Am Ende entsteht eine dem Ideal des melting pot entsprechende Gemeinschaft. Die Farm, auf der die kleine Gruppe Zuflucht findet, wird als Oase des Friedens und des Blühens inmitten einer kargen Landschaft dargestellt und entspricht visuell der Idee der Utopie als Insel, wie Thomas Moore sie beschrieben hat. Der Film verweist auf das Thema der „Wiedergeburt durch Gewalt“ (14) und stellt es zugleich in Frage, indem er die Notwendigkeit von Versöhnung und friedlichem Miteinander herausstellt.
Um Teil dieser Gemeinschaft zu sein, muss der einsame Held jedoch einen Heilungsprozess durchlaufen, indem er seine dunkle Seite, die vom Mörder seiner Familie symbolisiert wird, überwindet. In einem letzten Duell tötet er seinen perfiden Doppelgänger. Auch der Protagonist von Pale Rider muss sich der Gewalt stellen. Der von George Stevens Shane (Mein großer Freund Shane, 1953) inspirierte Western radikalisiert dessen intertextuelle Dimension, indem er eine Reflexion über das Westerngenre und Eastwoods persona anbietet. Der namenlose Reiter ist nicht nur ein Superheld, sondern ein Phantom, eine mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Figur, die einer Gruppe armer Siedler gegen einen reichen und korrupten Minenbesitzer zur Hilfe kommt. Ganz nebenbei wird die Zerstörung der Natur ins Visier genommen.
Einen Wiederkehrer spielt Eastwood bereits in High Plains Drifter. Der geheimnisvolle Fremde ist der Geist eines ermordeten Marshalls, der Rache an seinen Mördern nimmt. In zahlreichen Filmen Eastwoods werden die Hauptfiguren von den Geistern der Vergangenheit, von traumatischen Erfahrungen und Obsessionen heimgesucht: Mystic River (2003), Changeling (Der fremde Sohn, 2008), J. Edgar (2011), American Sniper (2014). In Hereafter (Hereafter – Das Leben danach, 2010), steht das Übernatürliche im Mittelpunkt der Handlung, die um Personen mit Nahtoderfahrung kreist. Das Unerklärliche hält Einzug ins Alltägliche. Doch hier wird es nicht mit dem Übermenschlichen assoziiert, sondern ist eine Bürde, die mit Leid und Trauer verbunden ist.
Unforgiven variiert das Thema des Wiederkehrers über eine realistische Dimension. Der schwerverletzte William Munny gewinnt seine Kräfte zurück und rächt den grausamen Tod seines Freundes Ned (Morgan Freeman). Munny, der als Witwer mit zwei Kindern ein kärgliches Leben als Schweinezüchter führt, ringt mit seinem Image als gefürchteter Revolverheld. Nur zögernd nimmt er einen Auftrag als Kopfgeldjäger an. Seinem jungen Bewunderer Schofield Kid (Jaimz Woolvett) versucht er ständig klarzumachen, dass Gewalt nichts Gutes bringe. Am Ende wird er von ihr überrollt und erfüllt sein Image, indem er ein Blutbad anrichtet, um für den toten Freund Rache zu nehmen. Nach dem großen Showdown mit vielen Toten und Zerstörung verlässt Munny die kleine Stadt und reitet in strömenden Regen in die Dunkelheit hinaus. Schwärze umgibt ihn, die wenig Hoffnung für den Optimismus des amerikanischen Traums lässt. Im Hintergrund einer der Einstellungen erkennt man das Sternenbanner. Munny ist der Held Amerikas, das längst seine Unschuld verloren hat und ist seine Nemesis.

Ein Schlüsselmoment
Die Helden in den Filmen von oder mit Eastwood – und das schließt Callahan mit ein – mögen Siege erringen und damit den Erwartungen eines Teils des Publikums entsprechen. Die Siege sind aber niemals Triumphe, sondern haben stets einen bitteren Beigeschmack.
Bereits in The Outlaw Josey Wales nähert sich Eastwood dem Credo vieler Westernhelden –„Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss“ – auf kritische Weise. Der als unbezwingbar dargestellte Josey gewährt dem Kopfgeldjäger, der ihn jagt, die Chance weiterzuleben. Der Mann scheint sie anzunehmen, kehrt dann aber zurück und fordert Josey heraus, der ihn erschießt. In Mystic River wird Selbstjustiz in Frage gestellt. Diesmal wird der Rächer nicht von Eastwood dargestellt, sondern von Sean Penn in der Rolle des Jimmy. Dieser tötet allerdings den falschen Mann – ein Irrtum, der den von Eastwood gespielten Figuren nie unterlaufen ist.
Jimmy ist wie der Kopfgeldjäger unfähig, den von Gewalt bestimmten Männlichkeitscodes zu entkommen. Walt Kowalski (Eastwood), der Protagonist von Gran Torino (2008), wirkt manchmal wie Dirty Harry in Rente, doch am Ende wird er so handeln, wie Harry Callahan es niemals getan hätte. Der Film baut in den letzten Sequenzen die Erwartung auf, dass Walt sich auf einen Rachefeldzug begeben und Selbstjustiz üben wird. Diese Erwartungshaltung wird durch Eastwoods persona geschürt. Doch dann kommt alles ganz anders. Der unbewaffnete Walt zieht keine Feuerwaffe, sondern ein Feuerzeug. Indem er sich opfert, rettet er nicht nur das Leben seiner beiden jungen Nachbarn Thao (Bee Vang) und Sue (Amney Her), sondern beendet den Zyklus von Gewalt in seinem Viertel. In Gran Torino stehen Themen wie Vergebung und Erlösung im Mittelpunkt. Walt, der vom Koreakrieg traumatisierte Veteran, macht Thao, der Einwanderer aus Asien, zu seinem geistigen Erben. Das mag sehr einfach und klischeehaft klingen und lässt an die Figur des „weißen Retters“ denken. Doch wie Thao ist Walt kein WASP, sondern hat polnische Wurzeln und gehört einer älteren und bereits assimilierten Einwanderergruppe an. Es ist von Bedeutung, dass Eastwood eine solche Figur spielt, die einmal mehr entgegen jener Codes agiert, auf denen seine persona basiert und die für viele Teile seines Image geworden sind. Nur so kann Kritik auch bei den Zuschauern ankommen, die sich am Bild des gewalttätigen Helden ergötzen mögen.

Spiel mit der persona
Viele Jahre lang konnte sich Eastwood den Erwartungen seiner Fans, die ihn als Westernhelden oder Polizisten sehen wollten, der seine Ziele durchsetzt, nicht immer entziehen. Er hat damit verbundenen kommerziellen Erwägungen Rechnung tragen und den Wünschen der Studios (15), mit denen er gearbeitet hat, entgegenkommen müssen. So drehte er 1983 mit Firefox einen Actionthriller, der Elemente des Agentenfilms mit dem Schicksal eines Vietnamveteranen verbindet, den Kalten Krieg mit dem in Vietnam und dessen Schlüsselszene – die Verfolgungsjagd, die sich zwei Superjets liefern, – an George Lucas Blockbuster Star Wars (Krieg der Sterne, 1977) erinnert (16).
Mit zunehmenden Alter hat sich Eastwood mehr und mehr von seiner persona lösen können, obwohl diese immer wieder ein kreatives Element seines Werkes war und bis heute wie eine stumme Referenz in seinen Filmen mitschwingt, indem sie die Filme um eine wichtige intertextuelle Dimension bereichert. Das gilt für die von John Huston inspirierte Figur des Regisseurs John Wilson in White Hunter, Black Heart (Weißer Jäger, schwarzes Herz, 1990) ebenso wie für den ehemaligen Arbeiter Walt Kowalski in Gran Torino. J. Edgar Hoover (J. Edgar, 2011) und Chris Kyle (American Sniper, 2014) erinnern an Harry Callahan, nur dass Eastwood die Brüchigkeit und Problematik dieser Charaktere mehr und mehr und auf unterschiedliche Weise auslotet und dabei deren Abgründe und Obsessionen gänzlich freilegt.

Frauenfiguren
Auch die von Angelina Jolie gespielte Christine Collins in Changeling lässt an Callahan denken. Ihre obsessive Suche nach ihrem verschwundenen Kind und ihr Kampf gegen einen korrupten und unfähigen Polizeiapparat greifen Themen der Polizeifilme auf. In Changeling steht jedoch nicht nur eine Frau im Mittelpunkt, sondern es geht auch um das Schicksal von Frauen, die in einer Männerwelt nicht ernst genommen, misshandelt und auf perfide Weise zum Schweigen gebracht werden, d.h. in psychiatrischen Kliniken verschwinden. Frauen sind in Eastwoods Filmen sehr viel mehr als nur zweckdienliche Charaktere, die helfen, die von Eastwood gespielte Figur zu variieren, und sie sind nicht nur Bedrohung für die Männlichkeit der von Eastwood dargestellten Protagonisten. Bereits bei seiner zweiten Regiearbeit hat Eastwood darauf verzichtet, eine Rolle zu übernehmen. Der Film ist nach dem Spitznamen seiner Protagonistin benannt: Breezy (1973). Kay Lenz spielt die junge, unkonventionelle Frau, in die sich ein ältere Geschäftsmann (William Holden) verliebt, in dessen Leben sie – ihrem Namen gerecht werdend – frischen Wind bringt. Breezy verkörpert das, was Callahan ablehnt und Eastwood beweist, dass er sich in keine Schublade stecken lässt.
Im Gegensatz zu der Romanvorlage steht in The Bridges of Madison County (Die Brücken am Fluss, 1995) die Frauenfigur im Vordergrund, und es gibt mehrere Szenen, in denen der Blick der Frau auf den Mann inszeniert wird. Eastwood spielt den weltgewandten Fotografen Robert Kincaid, dessen Liebe das öde Leben der Farmersfrau Francesca (Meryl Streep) auf den Kopf stellt. Hier findet sich mehr vom Image Eastwoods als von seiner persona, z.B. die Liebe zum Jazz, die der Regisseur und seine Figur teilen. Ein anderes großartiges Frauenporträt findet sich in Million Dollar Baby (2004), in dem Eastwood einen Blick auf das Amerika von ganz unten wirft. Der amerikanische Traum vom sozialen Aufstieg scheint für die ambitionierte Boxerin Maggie Fitzgerald (Hilary Swank) zum Greifen nahe, wird aber jäh beendet. Gewalt wird nicht nur durch den Sport und durch die mit unsauberen Mitteln kämpfende Gegnerin der Protagonistin repräsentiert, sondern ist latent im Porträt dieses Amerikas der Außenseiter präsent. Million Dollar Baby ist zudem ein Film über das brisante Thema der Sterbehilfe. Und Eastwood spielt als Trainer Frankie Dunn den Ersatzvater der jungen Boxerin, der darunter leidet, dass seine leibliche Tochter ihm den Rücken gekehrt hat. Das Thema des Mannes, der sich seinem Versagen als Vater stellen muss, findet sich in Absolute Power (1997), True Crime (Ein wahres Verbrechen, 1999) und allen auf Million Dollar Baby folgenden Filmen, in denen Eastwood auftritt: Gran Torino, Trouble with the Curve (Back in the Game, 2012, Robert Lorenz) und The Mule (2018). Findet sich hier ein versteckter Fingerzeig zu Eastwoods Leben als Schauspieler und Regisseur, der sicher nicht häufig für seine acht Kinder aus verschiedenen Beziehungen da sein konnte?

Entwicklungen
Einen eindeutigeren Bezug zu Eastwoods persönlichen Interessen und seiner Biografie liefert das Buch, mit dem Frankie Dunn Gälisch lernt: einen Band mit Gedichten von William Butler Yeats (17). Aus Irland stammen nicht nur einige der Vorfahren Eastwoods, sondern auch die vieler Amerikaner. In The Outlaw Josey Wales und Bronco Billy (1980) entstehen utopische Gemeinschaften, die dem Ideal des melting pot entsprechen, allerdings eines Schmelztiegels der gesellschaftlichen Außenseiter: Native Americans, Afro-Amerikaner, Latinos, ältere Menschen, ehemalige Strafgefangene, ein Vietnamdeserteur… Die Filme Eastwoods zeugen von der Heterogenität der amerikanischen Gesellschaft und geben denen einen Platz, die in der Wirklichkeit oft an deren Rand gedrängt sind.
Eastwoods persona wird in Bezug auf sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen ständig variiert und weiterentwickelt. Auch die Heldenfiguren sind nicht erstarrt. Die Filme der letzten Jahre kreisen um Helden aus dem Alltag: Sully (2016), 15:17 to Paris, Richard Jewell (2019). In Sully und Richard Jewell geht es nicht nur um das verantwortliche Handeln des Einzelnen, sondern auch um Individuen, die sich gegen eine verkrustete Bürokratie zur Wehr setzen müssen, deren Opfer sie zu werden drohen. Die Werte der frontier – Mut, Ausdauer, Opferbereitschaft – sind im zeitgenössischen Amerika einmal mehr verraten worden. Und immer wieder gibt es direkte, wenn auch augenzwinkernde Hinweise auf Eastwood und seine persona und sein Image. So gibt es in Sully eine Einstellung des Time Square, in der ein Plakat von Gran Torino zu sehen ist.

Tiefes, sattes Schwarz
Eastwoods Heldenfiguren sind widersprüchlich und gebrochen. Die Licht-Schattenästhetik, die seine Regiearbeiten von Beginn an dominiert, ist das adäquate Ausdrucksmittel für diese oft düsteren, in Gewalt gefangenen Charaktere. Bereits vor seiner ersten Zusammenarbeit mit dem Kameramann Bruce Surtees, den man in Hollywood den „Prinzen des Dunklen“ nannte (18), interessierte sich Eastwood für die vielen Nuancen von Schwarz, wie Akira Kurosawa sie in seinen Schwarzweißfilmen mit dem Einsatz geringer Lichtquellen erzeugt hat (19). Er und die Kameramänner, mit denen er im Laufe der Jahre zusammengearbeitet hat (20), brauchten keine digitalen Techniken wie das DI-Verfahren (21), um die gewünschten Effekte zu erhalten. Heute ist Eastwood allerdings ein Meister in der Anwendung dieser Verfahren, wovon u.a. Flags of Our Fathers und Letters from Iwo Jima (beide 2006), seine beiden Filme über die Schlacht von Iwo Jima (22), zeugen.
Eastwood ist in einer Zeit aufgewachsen, in der der Schwarzweißfilm dominierte. Filme von John Ford, Carol Reeds Odd Man Out (Ausgestoßen, 1947) und The Third Man (Der dritte Mann, 1949), die der „schwarzen Serie“ und Kurosawa haben ihn beeinflusst. Bird (1988), obwohl in Farbe gedreht, präsentiert sich wie ein Schwarzweißfilm. In seinen Filmen werden menschliche Figuren zu bloßen Silhouetten reduziert oder erscheinen als durch die Schwärze fragmentierte skizzenhafte Körper. Dem daraus resultierenden Minimalismus entspricht Eastwoods lakonisches Spiel. Doch Minimalismus bedeutet nicht Einfachheit, sondern zwingt zum genauen Hinsehen. Die Hingabe zum Detail durchzieht Eastwoods Filme, die zeigen, dass eine klassisch anmutende Erzählung viele Bedeutungsschichten beinhalten kann. Eastwood vertraut der Kraft der Bilder und braucht nicht viele, um einen Charakter oder eine Situation zu beschreiben. The Bridges of Madison County wird von fließenden und eleganten Kamerabewegungen dominiert, die die zwischen den beiden Hauptfiguren entstehende Intimität auf sensible Weise zum Ausdruck bringt. In der Szene, in der Francesca neben Robert in dessen Pickup sitzt, um ihm den Weg zur Roseman Brücke zu zeigen, werden beide von außen in einer Nahaufnahme gezeigt, die einen ersten Eindruck von Annäherung signalisiert. Danach bleibt die Kamera draußen und zeigt die Protagonisten in verschiedenen Einstellungen von vorne oder von der Seite. Die etwas steife Haltung Francescas und ihre nervösen Gesten deuten ebenso wie die Kamerapositionen an, dass sie und der Fotograf immer noch Fremde sind, die sich nur langsam näherkommen. Von dem Augenblick an, in dem Robert erwähnt, dass er Bari, Francescas Heimatstadt, kenne, wird die Situation aus dem Inneren des Wagens gefilmt. Die Schuss-Gegenschusskonstellation, mit der sie gefilmt sind, stellt jedoch keine Trennung dar, sondern suggeriert den Beginn einer Beziehung, die letztendlich unerfüllt bleiben wird. In der Szene des Candlelight Dinners wird die Beziehung auf ähnlich subtile Weise dargestellt. Die romantische Szene ist ausschließlich aus der Distanz in Totalen gefilmt, die die baldige Trennung der Liebenden optisch vorwegnehmen.
Komplexität wird auch immer wieder über die Musik erzeugt. Eastwood, der verhinderte Jazzmusiker, lässt keine Gelegenheit aus, Jazzmelodien in seinen Filmen einzubringen. Country ist eine andere Musikrichtung, die sein Werk prägt. Für einige seiner Filme, zu denen Flags of Our Fathers gehört, hat er selbst den Soundtrack komponiert und für Letters from Iwo Jima seinen Sohn Kyle beraten, der gemeinsam mit Michael Stevens die Musik für diesen zweiten Teil des Diptychons geschrieben hat.

Legendenbildung
Nicht nur über die Musik bliebe viel zu sagen, die einen wichtigen Beitrag zur großen Vielschichtigkeit der Filme Eastwoods leistet. Doch die Komplexität offenbart sich nur, wenn man bereit ist, genauer hinzusehen. Dabei sind Filme wie Unforgiven, Flags of Our Fathers, American Sniper und auch The Bridges of Madison County Filme über das Sehen, über die Wahrnehmung des Anderen und über die der eigenen Person. Der kurzsichtige Schofield Kid, der von Munny nur dessen Ruf als gefürchteten Revolverhelden kennt und diesem nacheifert, will sich von seinem Anteil am Kopfgeld eine Brille kaufen. Nachdem er miterleben musste, wie schrecklich das Töten ist, verändert sich seine Sicht auf sein Idol, und er will kein Revolverheld mehr werden. Beauchamp (Saul Rubinek), der Verfasser von Groschenromanen und Biograf des Revolverhelden English Bob (Richard Harris), trägt wegen seiner Kurzsichtigkeit eine Brille und wird trotz des Tötens weiterhin auf die Jagd nach Sensationen gehen. Munny selbst lernt sehen, nachdem er dem Tod knapp entronnen ist: „Normalerweise würde ich keinen Blick auf ein Hochland wie dieses werfen“, sagt er, während er – gerade genesen – die verschneiten Berge betrachtet.
Unforgiven ist ein Film über die Konstruktion von Legenden, in dem gezeigt wird, wie Heldengeschichten entstehen. Dieses Thema steht auch im Mittelpunkt von Flags of Our Fathers. Beide Filme zeigen, wie dicht Wahrheit und Lüge nebeneinanderliegen, wie Menschen zu Helden gemacht, aber auch instrumentalisiert und ausgenutzt werden. Ähnlich kritische Reflexionen zum Umgang der Medien mit Menschen, die erst zu Helden stilisiert und dann von denselben Medien verurteilt werden, finden sich in Sully und Richard Jewell. Mit seinen beiden Filmen über die Schlacht von Iwo Jima geht Eastwood über das Thema der Legendenbildung hinaus, indem er in Letters from Iwo Jima erneut ein Wagnis eingeht und den Verlauf der mehrwöchigen Schlacht (22) aus japanischer Sicht erzählt. In diesem fast ausschließlich in japanischer Sprache und mir japanischen Schauspielern besetzen Film werden auch Ereignisse, die in Flags of Our Fathers gezeigt wurden, aufgegriffen. Indem sie aus einer anderen Perspektive gezeigt werden, werden Fehlinterpretationen der amerikanischen Soldaten bezüglich des Verhaltens ihrer Feinde und bestimmter Situationen korrigiert und Klischees über Japaner ad absurdum geführt.
William Munny kann seinem Image ebenso wenig entkommen wie Clint Eastwood. Im Gegensatz zu der fiktiven Figur des Kopfgeldjägers ist es Eastwood jedoch gelungen, seine persona und sein Image als kreativen Motor zu nutzen. Das zeigt sich erneut in The Mule, der eine subtil dosierte und äußerst gelungene Mischung aus Leichtigkeit und Tiefgang, Humor und Gewalt, menschlichem Drama und Spannung ist. Der Film variiert eine sich wiederholende Situation, ohne Langeweile aufkommen zu lassen, indem er fast unmerklich einen Spannungsbogen aufbaut. Eastwood spielt eine ungewohnt hedonistische Figur voller Charme und Lebensfreude. Mit 88 Jahren kann er sich einige anarchische Züge erlauben. Wie Eastwood ist die Hauptfigur Earl ein Freigeist, der beharrlich seinen eigenen Weg geht. The Mule verleugnet allerdings die Kehrseite des Individualismus nicht, die hier Einsamkeit und Entfremdung von der Familie bedeuten. Der Film macht auf unterhaltsame Weise deutlich, dass keine Kunstfigur, sondern der Mensch im Mittelpunkt von Eastwoods Kinos steht.

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1 Clint Eastwood et la Frontier : thème(s) et variations originales d’un répertoire traditionnel. Le système d’Eastwood et la recherche de nouvelles frontières dans la fiction cinématographique, Université Paris X-Nanterre, 7. Dezember 1993, unveröffentlicht.

2 Siehe Andrea Grunert, Dictionnaire Clint Eastwood, Paris, Vendémiaire, 2016.

3 Per qualque dollari in più (Für ein paar Dollar mehr, 1965) und Zwei Glorreiche Halunken (Il Buono, il brutto, il cattivo, 1966).

4 D.H. Lawrence, Studies in Classic American Literature, 8th ed., New York, Viking, 1969, S. 63.

5 Der Begriff „frontier“ wird hier im Sinne der „Frontier These“, die der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner 1893 in seinem Essay „The Significance of the Frontier in American History“ vorgestellt hat verstanden: Als die bewegliche, von Osten nach Westen verlaufende Linie, an der Wildnis und Zivilisation aufeinandertreffen. In dieser Grenzerfahrung sieht Turner die Grundlage der amerikanischen Nation und des demokratischen Systems. 1890 wurde die frontier offiziell für geschlossen erklärt. Die Eroberung des Westens galt damit als vollendet.

6 Siehe u.a. Anthony Chase, “The Strange Romance of ʿDirty Harryʾ Callahan and Ann Mary Deacon”, The Velvet Light Trap, Nr. 4, Januar 1972, S. 2-7.

7 Eastwood gilt inoffiziell als der Regisseur des Films, da er den Drehbuchautor Richard Tuggle, der erstmals Regie führen sollte, nach einigen Tagen Drehzeit abgelöst haben soll.

8 Der reißerische deutsche Titel erweist sich als irreführend und in keinem Zusammenhang zum Inhalt des Films stehend.

9 Der Film wurde in Carmel, Eastwoods Wohnort an der kalifornischen Küste, gedreht.

10 Siehe Leslie A. Fiedler, Love and Death in the American Novel, 2nd rev. ed., New York, Stein & Day, 1966. Im Kino findet sich diese Tradition u.a. in den Filmen der „Schwarzen Serie“ wieder.

11 Bereits in Two Mules for Sister Sara (Ein Fressen für die Geier, 1970), einem anderen Film Siegels, wird die Virilität der von Eastwood dargestellten Figur unterminiert, hier allerdings mit dem Mittel des Humors.

12 Die Hauptdarsteller von 15:17 to Paris sind die drei jungen Amerikaner, die 2015 ein Attentat auf den Hochgeschwindigkeitszug Thalys von Amsterdam nach Paris verhindert haben.

13 Der Vietnamkrieg ist 1975 beendet worden.

14 Seihe zum Konzept der „Wiedergeburt durch Gewalt“ Richard Slotkin, Regeneration Through Violence: The Mythology of the American Frontier (1600-1860), Middletown, Conn., Wesleyan University Press, 1973.

15 Eastwood hat 1968 seine eigene Produktionsfirma – Malpaso – gegründet. Die meisten seiner Filme sind in Zusammenarbeit mit Warner Brothers entstanden.

16 John Charles Dykstra, der an den Spezialeffekten von Star Wars mitgearbeitet hat, und seit Ende der 1970er Jahre einer der bedeutendsten Namen in dieser Branche ist, zeichnet für die Spezialeffekte von Firefox verantwortlich. Für Details zu den Spezialeffekten in Firefox und deren Entstehung siehe die Artikelserie „Special Effects for Firefox“, American Cinematographer, Band 63, Nr. 9, September 1982, S. 912-932.

17 Obwohl William Butler Yeats einer der Hauptvertreter der irischen Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, hat er seine Gedichte und Prosatexte in englischer Sprache verfasst. Der Bezug zum Gälischen und zu Yeats ist jedoch wichtig, insofern Eastwood selbst irische Wurzeln hat. Der Nachname Dirty Harrys – Callahan – weist diesen ebenfalls als irischstämmig aus. Doch vor allem in den Filmen, die seit den 1990er Jahren entstanden sind, ist das irische Element immer bedeutender geworden, was dem Zeitgeist entspricht und zu der erhöhten Aufmerksamkeit, die Irland und den Iren u.a. auch im Hollywoodfilm seit einigen Jahren geschenkt wird.

18 Die erste Zusammenarbeit war die bei Siegels The Beguiled. Surtees war ebenfalls Kameramann bei Eastwoods Regiedebüt Play Misty for Me und bei sieben weiteren seiner Filme, Tightrope eingeschlossen sowie bei mehreren Filmen, in denen Eastwood die Hauptrolle spielte. Die Zusammenarbeit endete mit Pale Rider.

19 Siehe Michael Goldman, Clint Eastwood: Master Filmmaker at Work, New York, Abrams, 2012, S. 119.

20 Nach der Trennung von Bruce Surtees hat Eastwood mit hauptsächlich mit zwei Kameramännern gearbeitet: Jack N. Green und Tom Stern.

21 DI = Digital Intermediate.

22 Die Schlacht dauerte vom 19. Februar bis 26. März 1945.

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