“Einen Film zu drehen ist wie ein ganzes Universum zu organisieren.” (Ingmar Bergman)
In den Filmen von Aparna Sen sind es immer die kleinen, beim ersten Sehen kaum wahrnehmbaren Brechungen und Spiegelungen, die ihre Filme im Nachhinein (und besonders nach mehrmaligem Sehen) so besonders machen. Anders ausgedrückt – das filmische Universum von Aparna Sen kann man auch als ein Multiversum verstehen. Die offensichtliche, scheinbar durchschaubare Oberfläche ihrer Filme steht in einer seltsamen Beziehung zu diesen versteckten Ebenen. Man könnte dabei an 15 Park Avenue denken, aber ich halte eines ihrer Meisterwerke Mr. And Mrs. Iyer für das bessere Beispiel. Auf den ersten Blick erscheint der Film sehr einfach, bei mehrmaligem Sehen dann allerdings, gerade in ihrem Spiel mit traditionellen Erzählmustern (die häufig gebrochen werden), eher als ihr abstraktester Film und unter anderem auch so etwas wie die Neuerfindung des Road Movies für das 21. Jahrhundert.
Ghawre Bairey Aaj ist ihre Adaption des weltberühmten Romans Das Heim und die Welt von Rabindranath Tagore, der schon einmal 1984 von Satyajit Ray verfilmt wurde. Wie mit ihrer Verfilmung von Shakespeare´s Romeo and Julia (Arshinagar), verlegt Sen die Handlung des Romans in die Gegenwart Indiens. Die nationalistische Svedashi-Bewegung vom Anfang des 20. Jahrhunderts wird zur Hindu-fundamentalistischen Bewegung der Regierungspartei BJP. Die Partei wird zwar in dem Film nicht erwähnt aber Aparna Sen gibt sich auch keine Mühe Parallelen zur Indischen Gegenwart zu verschlüsseln. Unter anderem gibt es auch Anspielungen zu den para-militären Kadern RSS, die ganz eindeutig auf die europäischen Faschismusbewegungen der 1920er zurückgehen, unter anderem auch auf Hitler´s SA. Deren Aggressionen richten sich vor allem gegen Muslime und andere Minderheiten, Frauen und Männern aus unteren Kasten.
Ebenso interessant sind die Modifikationen, die Sen an den drei Hauptfiguren von Tagore´s Roman vorgenommen hat, die zusammen eine der berühmtesten Dreiecksbeziehungen der Weltliteratur repräsentieren. Der Maharadscha Nikhilesh (Arniban Bhattacharya) wird zum Redakteur und Herausgeber einer links-liberalen Onlinezeitung, India Today, seine Frau Brinda (Tuhina Das) ist eigentlich eine Dalit, Nachfahrin der Indischen Ureinwohner. Ihre Grossmutter, einst Dienerin in Nikilesh´s Familie hat das verwaiste Mädchen mitgebracht und Nikilesh hat sie später geheiratet. Obwohl zur studierten Indischen Mittelklasse konvertiert, sind ihre Wurzeln in der indischen Arbeiterklasse (die Eltern waren Bergleute)verwurzelt. Sandip (Jisshu Sengipta) ist Nikilesh´s Freund seit Kindertagen. Er hat sich von einem Linksradikalen zu einem Hindu-Fundamentalisten gewandelt, die Seiten von der extremen Linken zur extremen Rechten gewechselt. Sandips Bosheit ist vorerst wie hinter einer Maske verborgen. Es ist die Maske eines Verführers zwischen Mozart´s Don Giovanni und den männlichen Monstren in den Filmen von Erich von Stroheim.
Der direkte und ungefilterte politische Aspekt des Films ist wichtig. Jeder, der ein bisschen über Aparna Sen weiß, kennt sie auch als Aktivistin, unter anderem ihr Engagement in der Protestbewegung gegen das Nandigram-Massaker oder ihren Protest gegen die gegenwärtige politische Strömung von Intoleranz und Gewalt in Indien. Darum wird sie in den sozialen Netzwerken auch vor allem von ultrarechten BJP-Anhängern attackiert.
Ihre Motivationen sind weniger von einer bestimmten Ideologie bestimmt (sie hat sich einmal als entfremdete Linke bezeichnet), sondern eher von dem, was man hier als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet. Ich denke dabei ein wenig an Nikhilesh´s Lehrer Professer Mitra (gespielt von dem wunderbaren Anjan Dutt). In einem Streit mit Sandip bezeichnet er die Hindu-Religion als nobel und fragt ihn, warum er sie „talibanisieren“ will.
Ausser der Eröffnungssequenz und dem Schluss erscheint die Erzählstruktur des Films klar und einfach. Die Szenen der Gegenwart sind in Farbe, Rückblenden in Schwarz und Weiß. Aber sehr bald wird die vermeintlich einfache Erzählstruktur zu schwindelerregend virtuosem Erzählkino. Ghawre Bairey Aaj erscheint meistens als Kammerspiel. Außer einigen Exkursionen von Brinda und Sandip oder Nikhilesh´s Reise in ein Dorf, wo ein Hospital für die Dorfbewohner gebaut werden soll, finden viele Szenen in Inneneinrichtungen oder auf Terrassen statt. Findet der Film mehr im „Heim“ als in der „Welt“ statt, bleiben die Grenzen dennoch fließend. Die Welt ist spürbar hinter jedem Fenster, jedem Vorhang oder beim Blick von der Terrasse. Nach ihren eher epischen Filmen wie Goynar Baksho (Die Schmucktruhe) oder ihre Romeo and Julia-Adaption Arshinagar, hat Aparna Sen in der Tat zwei fast schon minimalistische Kammerspiele gemacht, Saari Raat (Die ganze Nacht) und Sonata. Ghawre Bairey Aaj erscheint ein wenig als die Summe dieser Dynamik zwischen Opulenz und Minimalismus, die ihre letzten vier Filme im Kontext ergeben.
Auch wenn Aparna Sen Tagore sehr treu bleibt in der Art, wie die Erzählung die Motivationen der drei Hauptfiguren beleuchtet, spüre ich doch, dass sie die Figur der Brinda etwas hervorhebt. Brinda ist nicht besonders verwickelt in den ideologischen Streit zwischen Sandip und Nikhilesh, erscheint aber mehr in Kontakt mit ihrer Geschichte zu sein. Es gibt da eine ganz wichtige Rückblende, wenn Brinda als kleines Mädchen zum ersten Mal in das vornehme Haus von Nikhilesh kommt. Das Kind, gerade zur Waise geworden, weigert sich, am Tisch zu sitzen und will ihre Mahlzeit (wie sie es gewohnt ist) auf dem Boden einnehmen. Was Sandip sarkastisch die „Brahmanisierung“ einer Kastenlosen bezeichnet, ist für das Mädchen vor allem erst einmal eine schwer zu bewältigende Entwurzelung. So ist diese Szene nicht nur eine der berührendsten in dem Film, sondern auch sehr wichtig, um Brinda´s Verhalten zu verstehen. Wenn Sandip und Nikhilesh immer von einem festgelegten ideologischen Standpunkt aus streiten, ist Brinda vor allem auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt, den sie „Heim“ nennen kann. Es ist aber zugleich auch die Suche nach einem geistigen Ort, von dem aus sie die vorgefertigten Ideologien der Männer überprüfen kann.
Als sie sich dann später in eine sexuelle Beziehung mit Sandip einlässt, ist sie weniger die Verführte sondern sie scheint diese Affäre als willkommenes Selbstexperiment auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt zu nehmen. Das passiert dann auch eher mit einer seltsamen Unschuld als mit der Absicht, ihren Mann zu betrügen. Sie folgt einer unbestimmten Sehnsucht – leider mit der falschen Person. Später erkennt Brinda Sandips wahres Gesicht. Als sie schwanger wird, empfiehlt er ihr, das Kind abzutreiben. Als sie vorschlägt, mit ihm gemeinsam fortzugehen, lehnt er ab. Seine politische Karriere würde darunter leiden, wenn seine Beziehung zu Brinda, einer Kastenlosen bekannt werden würde. Die Szene, in der Brinda Nikilesh ihren Ehebruch gesteht und sie sich versöhnen, gehört zu den unvergesslichen Momenten des Films. Es ist eine Kammerszene mit der Intensität einer Mozart-Oper (ich denke ganz besonders an Cosi Fan Tutte). Aber es ist auch ein ergreifender und zärtlicher Moment zwischen einem Paar, das fast vollkommen jegliche Illusion von romantischer Liebe verloren hat. Hinter dieser eleganten, fast schon musikalischen Szene offenbaren sich dann aber Gefühle so nackt und wahr, wie man es eigentlich nur aus den Filmen von Ritwik Ghatak oder Terrence Malick kennt.
Die Musik von Neel Dutt erscheint fast als eine vierte, wenn auch undefinierbare Person in dem Film, vielleicht als so etwas wie ein unsichtbares Phantom. Im Gegensatz zu den drei Hauptpersonen im Film, erscheint die Musik nicht an Zeit und Raum gebunden zu sein. Zwar ist die Musik auch begleitend, kommentierend und verstärkt manchmal auch ein wenig die unterschwellige Melancholie einer gescheiterten Ehe oder einer sterbenden Freundschaft, bleibt aber trotzdem ein unabhängiger Agent. In dem filmischen Universum von Aparna Sen bleibt die manchmal elegische Musik dann auch so etwas wie eine mysteriöse Materie, die mit dem Film zu tun hat, ihr Geheimnis aber niemals ganz preisgibt. Wenn die Personen sich manchmal an ihre Geschichte erinnern und jede Rückblende so etwas wie ein „Wesen der Zeit“, wie Marcel Proust die verschiedenen Phasen eines Menschenlebens bezeichnet hat, verweist die Musik eher auf die Überreste dieser „Wesen der Zeit“, die fast verloren in Raum und Zeit umherirren. Neel Dutts Musik und wie sie in diesen Film integriert ist, repräsentieren die andere Seite des Films und Aparna Sens, den abstrakt-poetischen Aspekt neben der sehr direkten und düsteren Parabel über das Indien der Gegenwart.
Ghawre Bairey Aaj is unter anderem auch ein Film der gelösten Verbindungen, die eine zwischen alten Freunden und einem Ehepaar, aber auch die Verbindung der Charaktere mit ihren eigenen Geschichten. Es gibt hier eine unheimliche Doppelbelichtung gegen Ende des Films. Brinda begegnet ihrem Selbst als kleines Mädchen, das plötzlich wie ein Phantom erscheint und dann verschwindet. Brinda, die als einzige eine rege Verbindung zu dem hatte, was sie einst war, erscheint auf eine merkwürdige Weise heimatlos und verloren. Je mehr der Film sich seinem intensiven Finale nähert, umso mehr wird er zu einem Poem über den Verlust von Heimat in der Kultur, aus der man hervorgegangen ist. Das ist ein wenig wie bei John Fords Two Rode Together, in seiner Schonungslosigkeit über den amerikanischen Rassismus, wie bei Renoirs letztem Vorkriegsfilm in Frankreich vor seinem Exil La Regle du Jeu, wie bei Ozus düsterstem Film Tokyo Boshoku (Tokio in der Dämmerung) oder wie bei Satyajit Ray´s grimmiger Kolkata-Trilogie.
Drei Menschen werden in diesem Film ermordet: ein homosexueller Muslim wird von einer Bande von Hindu-Fundamentalisten zu Tode geprügelt, der zweite Mensch wird das Opfer eines politischen Mordes und der dritte Mensch stirbt in einem Racheakt. Nikileshs Arbeitszimmer mit seinen überfüllten Bücherregalen war immer ein ganz wichtiger Ort in diesem Film und war auch so etwas wie ein Bild für die gespeicherte Weisheit, Vielfalt von Philosophien, Wissenschaften und Poesie dieser Jahrtausende alten Kultur Indiens. Am Ende wird dieses Zimmer zur Aufbewahrung einer Leiche umfunktioniert. Nach dem letzten Mord, dem Racheakt einer jungen Frau an dem Mörder ihres Mannes, erscheint die Tonspur verzerrt, die Bewegungen verlangsamen sich wie in dem Ereignishorizont eines schwarzen Lochs. Tuhina Das´schönes Gesicht erstarrt wie zu Stein, aus dem jedes Zeichen von Leben verschwunden ist. Der Kreis hat sich geschlossen. Dieses Filmende ist nicht weniger apokalyptisch als das in Aparna Sen´s Yugant (Was das Meer erzählt). Diese letzten Bilder hinterlassen ein langes verstörendes Echo. Die Welt ist auseinandergebrochen.
Für einen Moment scheint es, als habe sich die kultivierte Laterna Magica von Aparna Sen aufgehört zu drehen.
Rüdiger Tomczak