“Der Film wird vollkommen sein, wenn er aufgehört hat, sich für eine Kunst der Realität auszugeben, um nur noch kunstgewordene Realität zu sein.“ (André Bazin über The River von Jean Renoir aus Jean Renoir, Carl Hanser Verlag, 1977)
Es gibt eine Szene aus Aparna Sen´s vorletztem Film Iti Mrinalini, der am Strand zum Meer spielt. Der Film besteht vorwiegend aus Rückblenden, die die Erinnerungen einer alternden Schauspielerin sind, die im Begriff ist, sich das Leben zu nehmen. Wir sehen Mrinalini (Konkona Sen Sharma) als junge Frau (die alternde Mrinalini wird von Aparna Sen gespielt) mit ihrer unehelichen Tochter. Dieses Mädchen wurde von Mrinalinis Bruder und dessen deutscher Freundin adoptiert. Ihre wirkliche Mutter scheint das Kind zunächst nicht zu kennen.
Die junge Frau und das Mädchen blicken in den Himmel oder schauen auf das Meer. Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Diese Augen, die schauen, scheinen wie auf eine riesengrosse Leinwand gerichtet zu sein. Diese Momente, wo das im Film Gezeigte selber zu Kino zu werden scheint, gibt es oft in den späten Filmen von Aparna Sen, unter anderem in ihrem Road Movie Mr. And Mrs. Iyer und in The Japanese Wife. Auch wenn sie in eine wirkliche Landschaft blicken, erscheint der Blick der Personen entrückt und auf eine verlorene, bereits untergegangene Welt gerichtet.
Sie singen:
„„In this infinite sky
My freedom lies in this glorious light
in this infinite sky.
My freedom lies in the dust of this earth
and blades of grass
in this infinite sky.“
Dann hören sie auf zu singen und beginnen nach einem kurzen Moment des Schweigens zu reden, während die Kamera sich in Kreisbewegungen um sie bewegt.
Das Mädchen sitzt im Sand, links neben der Mutter. Für einen Moment folgt die Kamera wieder ihren Blicken auf das Meer. Man sieht einen Radfahrer am Strand vorbeifahren und ganz in der Tiefe des Bildes erkennt man ein Fischerboot.
Der ganze Film handelt vor allem von der Arbeit im Filmgeschäft. Die Beziehungen der Menschen sind oft von Lügen und Verrat bestimmt. Diese Szene am Strand ist eine der wenigen in dem Film, in der nicht gelogen wird.
Mutter und Tochter sprechen über ihre Beziehung. Ob sie, das Mädchen wisse, wer ihre wahre Mutter sei, fragt Mrinalini. Ja, antwortet das Kind, sie habe einmal zufällig ihre Pflegeeltern heimlich reden hören und sich ihren Teil dabei gedacht. Während siein dieser archaischen Landschaft die Sonne, den Himmel, das Meer oder den Sand betrachten , geben sich Mutter und Tochter einander zu erkennen.
Die Szene ist etwa im letzten Drittel des Films zu sehen. Auch wenn es der schönste und glücklichste Moment des ganzen Films ist, erscheint er gerade im Kontext des gesamten Films umso ergreifender. Denn auch dieser idyllische Moment ist nur Teil einer Erinnerung und bereits verloren in dem Moment, in dem wir ihn betrachten.
Später verspricht die Mutter ihrer Tochter (sofern die Pflegeeltern einverstanden sind) in Indien nach einer internationalen Schule für ihre Tochter zu suchen und sie bei sich aufzunehmen.
Nach einem Schnitt sehen wir Mutter und Tochter den Strand entlanglaufen, sich von links nach rechts bewegend, allmählich den Bildrahmen verlassen. Erscheint dieser Moment als logischer Anschluss an den Vorangegangenen, stellt man fest, dass die beiden jetzt andere Kleidung tragen, das Mädchen ein rotes Hemd, die Mutter einen roten Sari. Befangen in eindimensionalen Dogmen des filmischen Realismus könnte man diesen Anschluss als falsch bezeichnen. Da sie, aus der Distanz gesehen, aber jetzt auch farblich miteinander harmonieren – wie in keinem anderen Moment des Films – hat dieser Moment seine eigene Wahrheit.
Während sie allmählich den Bildrahmen verlassen, singen sie wieder:
„In this infinite sky
My freedom lies in this glorious light (..)
Noch einmal – diese Szene ist Teil einer Serie von Erinnerungen einer selbstmordgefährdeten Frau. Erinnerungen, ob traurige oder glückliche, kommen oft unkontrolliert zu Bewusstsein. Der Moment, wo die beiden Personen plötzlich in anderer Kleidung zu sehen ist, erscheint weniger wie ein Moment, der geschehen ist, sondern wie sich jemand an ihn erinnert.Mir kommt hier die schöne Definition des „magischen Realismus“, wie Anjan Dutt eine andere Szene aus dem letzten Film von Aparna Sen Goynar Baksho (The Jewelry Box) bezeichnet, in den Sinn.
Natürlich ist diese wunderbare Szene nicht zufällig in die komplexe Struktur des gesamten Films eingebettet, da er gerade als Moment der Hoffnung umso heftiger mit den kurz darauf folgenden tragischen Wendungen des Films kollidiert. Gleichzeitig haben solche Momente manchmal ein Eigenleben und diese Szene, die genau zwischen sehr tragischen Szenen erscheint, ist eine der ersten, die mir in den Sinn kommt, wenn ich mich an den Film erinnere.
Es ist das Lied, das Mrinalini und ihre Tochter singen, das mir diese Szene sofort wieder hervorruft.
Das ist vielleicht einer der schönsten Momente in Aparna Sens Filmen und diese Szene aus dem Kontext des Films herauszulösen und auf sich wirken zu lassen, ist eine gute Einführung in die Schönheit und Inspiriertheit der Filme von Aparna Sen.
Rüdiger Tomczak