Ich erinnere mich an den 30. November 1995. Die erste Ausgabe von shomingeki war gerade gedruckt. Mit Koffern und Rucksäcken haben eine Freundin und ich die damals noch sehr dünnen Hefte von der Druckerei abgeholt und per S-Bahn und zu Fuss bis in meine kleine Dachgeschosswohnung geschleppt. Das ist jetzt mehr als 25 Jahre her und dass es die Zeitschrift immer noch gibt (wenn auch nicht mehr als Print-Ausgabe), konnte ich mir damals noch nicht vorstellen.

Der Corona Lockdown hat die 125-jährige Filmgeschichte fast zum Stillstand gebracht. Die Kinos sind immer noch geschlossen. Die Angst sich zu infizieren wird wohl auch noch eine Weile bleiben. Bisher kannte ich solche Situationen nur in dystopischer oder postapokalyptischer Science Fiction.

Im letzten Sommer starb plötzlich und unerwartet mein zweitältester Bruder Detlev Triphan. Er war nur vier Jahre älter als ich. Das war ein sehr tiefer Einschnitt in mein Leben. Mögliche Aktivitäten zum Jubiläum der Zeitschrift waren erst mal vergessen.

Zwei Monate später starb die Dramaturgin und letzte Herausgeberin der wunderbaren Filmzeitschrift Film und Fernsehen. Ich habe Erika Richter sehr gemocht. Sie war intelligent und man konnte viel von ihr über die Geschichte der DEFA lernen. Aber vor allem war sie ein sehr freundlicher Mensch. Das letzte Mal habe ich sie im Arsenal getroffen und wir haben uns Ritwik Ghataks Meisterwerk Subarnarekha angesehen. Das war im November 2016. An diesen Abend im Arsenal werde ich noch oft denken.

In dieser Ausgabe finden sich unter anderem ein Text von Johannes Beringer, Ansichten – bei Ansicht einiger Filme“ und von Bettina Klix, „Grenzsteine, Trümmer, Grabsteine“, sowie ein Text über Thomas Harlans Reaktionen auf seinen Vater Veit Harlan, der berüchtigt für seine Nazi-Propaganda-Filme war. Dabei möchte ich auch noch einmal auf die beiden Bücher hinweisen, die beide Autoren im letzten Jahr herausgebracht haben: Johannes Beringer: Minotäre Filme – Die eigenen Angelegenheiten; Bettina Klix: Träume Tricks Trümmer Tränen.

Mein Beitrag in diesem Heft wird eine Hommage an die indische Filmregisseurin Aparna Sen sein: Vier Texte über Aparna Sen.

Auf einen der shomingeki-blogs möchte ich noch hinweisen. Hier hat Andrea Grunert in den letzten zwei Jahren eine ganze Serie von Texten über Toshiro Mifune geschrieben, der im letzten Jahr 100 Jahre alt geworden wäre.

Zum Schluss kommt mir noch ein sehr schönes Zitat in den Sinn. Es ist von George Eliot aus dem Roman Middlemarch. Es wird am Ende kurz vor dem Abspann von Terrence Malicks letztem Film A Hidden Life zitiert:

The growing good of the world is partly dependent on unhistoric acts; and that things are not so ill with you and me as they might have been, is half owing to the number who lived faithfully a hidden life, and rest in unvisited tombs.” (Middlemarch, George Eliot)

Rüdiger Tomczak

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