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Die (Film-) Geschichte ist manchmal auch ein namenloses Grab der Vergessenen. „Das Leben eines Pekinger Polizisten“, oder genauer übersetzt mit „Mein ganzes Leben“, ist eine chinesische Wiederentdeckung aus dem Jahre 1950, die beim letzten Internationalen Forum zu sehen war. Vielleicht ist es nicht mehr als eine Laune der Geschichte, daß sich im Wissen um diesen Film zwei Tragödien verknüpfen lassen: die, von der dieser Film erzählt und die vom tragischen Ende des Regisseurs und Hauptdarstellers Shi Hui. Heute erscheint der Fall dieses Films wie ein, wenn auch unbeabsichtigter, bitterer Kommentar zu Geschichte und Filmgeschichte gleichermaßen. Hundert Jahre Film, das könnte auch eine Zeit des stillen Gedenkens und weniger eine des Feierns sein.
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Ein alter Bettler auf einer Pekinger Straße im Winter. Hungrig und dem Tod durch Erfrieren nahe erinnert sich der Alte an sein Leben, insbesondere an die Zeit, wo er als schlecht bezahlter Polizist gearbeitet hatte. Eine Rückblende von Episoden, die immer wieder mit einer Einstellung von einem Buch, in dem jemand blättert, unterbrochen werden. Das Buch eines Lebens, welches bereits schon zu Ende geschrieben ist. Der Untergang des alten Bettlers ist so gewiß wie der des Arbeiters in Marcel Carnés Le Jour se Leve“:
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Am Anfang der Rückblende sieht man Orte der Stadt Peking. Wer noch nie dagewesen ist, kennt sie zumindest aus Magazinen oder Reisebüchern. Aus dem Off beginnt der Sterbende mit den Worten „Mein Peking“. Dieses Menschenleben wird keine Spuren hinterlassen in dieser berühmten Stadt. Es geht auch um zwei Möglichkeiten von Geschichte, die offizielle der Geschichtsschreibung und die der Namenlosen, die sie konkretisiert, in ihre Privatsphäre gewaltsam eindringend, erfahren. Dabei berührt der Film bewegte Teile chinesischer Geschichte von der Qing-Dynastie bis zum Sieg der Kommunisten im Jahre 1949.
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Über den Polizisten rollt das Gewicht der Geschichte erbarmungslos hinweg. Er wird Zeuge von Plünderung, Korruption und Metzeleien von Soldaten an der Zivilbevölkerung. Seine naive Vorstellung von Pflicht und Gerechtigkeit wird von korrupten Vorgesetzten ausgelacht. Man sieht die Proteste der Studenten gegen die Forderungen der Japaner, die später das Land besetzen werden. Es scheint so, als blieben die globalen Zusammenhänge dem kleinen Polizisten so verborgen und verwirrend wie für mich oder andere Zuschauer, die in chinesischer Geschichte wenig bewandert sind. Dafür sieht man die Auswirkungen: Eine Frau, die ihr Kind verkaufen muß, um ihren kranken Mann heilen lassen zu können. Die Schwiegertochter des Polizisten wird von den Japanern gewaltsam in die Prostitution gezwungen. Ungeniert köpfen Soldaten vor den Augen der Polizei Menschen. Einmal hilft der Polizist einem Kommunisten seinen Häschern zu entkommen, nicht aus politischem Bewußtsein, sondern aus einem naiven Glauben an die Gerechtigkeit, die von dem, was man von dieser Zeit zu sehen bekommt, verhöhnt wird.
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Ein Bild, das wie ein Brennspiegel den Fatalismus des Films zusammenfaßt: Der Polizist und sein Freund verheiraten ihre Kinder untereinander. Im Hintergrund sitzen sich die beiden Männer als Familienoberhäupter an einem Tisch gegenüber und besprechen das Heiratsarrangement. Im Vordergrund vor dem Tisch stehen der Sohn des Polizisten und die Tochter des Freundes. Sie schweigen, handeln nicht, sondern man handelt mit ihnen. Weder Zustimmung noch Unbehagen über diese Fremdbestimmung läßt sich eindeutig in ihren Gesichtern ablesen. Dieses alltägliche Schicksal der jungen Leute gibt ein Bild davon, wie sich die Geschichte bis in die privatesten Sphären konkretisiert. Die Alten wiederholen an ihren Kindern das, was ihnen durch die Geschichte wiederfährt. Dieser Film erinnert in seiner Schwarz-Weiß Fotografie und seinem fatalistischen Akzent an einige französische Vorkriegsfilme. In seiner präzisen Konkretisierung der Geschichte von oben nach unten aber siedelt er sich thematisch fast schon in der Nähe jüngerer chinesischer Meisterwerke wie Tian Zhuangzhuangs „Lan Fengsheng“ (Der blaue Drachen) oder Hou hsiao Hsiens „Beiqing Chengshi (Eine Stadt der Traurigkeit) und „Hsimeng Rensheng“ (The Puppetmaster) an.
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Später wird der Polizist selbst verhaftet und brutal gefoltert. Man hält ihn für einen Kommunisten, da sein Sohn bereits der Untergrundbewegung beigetreten ist. In einer Einstellung sieht man den Gefolterten und den Folterknecht nur als Schatten, der eine, der sich vor Schmerzen krümmt, der andere, der wie ein Dämon der Grausamkeit auf ihn einschlägt. Naiv, aber auf eine seltsame Weise ergreifend, erscheint das Resumee des Polizisten bei einem Dialog mit einem anderen Gefangenen: „Sechzig Jahre bin ich alt und nun werde ich gefoltert.“
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Am Ende bricht der alte Bettler auf einer verschneiten Straße zusammen. Noch einmal tauchen Momente aus den Erinnerungen auf, von denen der Film bereits erzählt hat. Dieses „Mein Leben“ am Ende des Films ist wie die letzte Klage eines Sterbenden, der zweimal stirbt, als Individuum wie auch als eine Identität in der und mit seiner eigenen Geschichte. Danach folgen plötzlich und unvermittelt pathetische Bilder vom Sieg des Kommunismus im Jahre 1949. Man sagt, Shi Hui wurde „überzeugt“ diesen Schluß an das eigentliche Ende des Films anzuhängen. Der wirkt wie ein Fremdkörper in der pessimistischen Haltung des Films und vermag sie dabei nicht einmal ansatzweise zu relativieren.
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Im allgemeinen mag ich es nicht (oft willkürliche) Parallelen zwischen einem Film und dem Schicksal der Person, die ihn gemacht hat, zu ziehen. Im Informationsblatt des Internationalen Forums aber ist ein Text der taiwanesischen Filmhistorikerin Peggy Chiao zu lesen, in dem man etwas über den fast vergessenen Shi Hui erfährt. Mögen diese Parallelen auch wenig mehr als eine Laune der Geschichte sein, hier drängen sie sich nahezu auf. Shi Hui war einst in China als „fortschrittlicher“ Künstler und nicht zuletzt wegen seines größeren Ruhmes als Schauspieler als „König des Dramas“ hoch gelobt. 1957 wurde er als „Rechtsabweichler“ verfolgt. Shi Hui beging Selbstmord, indem er sich in einem See ertränkte. Als man seine Leiche entdeckte, heißt es, „waren seine Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen gewesen“. Peggy Chiao schreibt weiter: „Der Titel dieses Films „Mein ganzes Leben“ könnte sein eigener Grabspruch sein“.
Auch Filmgeschichte ist oft mit Blut geschrieben.
Rüdiger Tomczak
(Erstveröffentlichung, shomingeki Nr. 1, November 1995)