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Arigato heißt dankeschön. In dem Film wird ein Busfahrer Herr „Danke- schön“ genannt, weil er sich bei allen bedankt, die seinem Fahrzeug den Weg freimachen, egal ob es sich um Menschen oder um Geflügel handelt. „Arigato-san“ ist eine Ausgrabung aus dem Jahre 1936. Japanische Filme aus dieser Zeit sehen zu können ist alles andere als selbstverständlich. Ein erschreckend großer Teil des Werkes von mehr oder weniger berühmten Regisseuren Japans ist zerstört oder verschollen. Einen Film wie „Arigato-san“ überhaupt sehen zu können ist ein Geschenk, ein Stück wiedergefundenes Atlantis. Empfohlen wurde er dem Internationalen Forum von dem japanischen Filmhistoriker Tadao Sato.

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Hiroshi Shimizu (1903-1966) ist ein in Deutschland noch wenig bekannter Regisseur des Shomingeki-Films, einem Genre, das von nichts anderem handelt als von ganz alltäglichen Menschen und ganz alltäglichen Situationen. „Arigato-san“ ist ein Film ohne erkennbaren Handlungsstrang. Seine Erzählung oder die Bewegung der Kette von Episoden verläuft fast synchron mit der einer Busreise, die Menschen unterschiedlichster Herkunft für einige Zeit auf engstem Raum zusammen zeigt. Von dem Fahrer und den denkbar verschiedenen Charakteren, erfährt man (genau wie die Personen selbst) nicht mehr und nicht weniger, als auf einer Fahrt unter Fremden innerhalb eines begrenzten Zeitraums möglich ist. Es gibt keine dramatischen Steigerungen, sondern nur die der Landschaft. Der Film erscheint wie der extrem vergrößerte Ausschnitt von dem, was eine Geschichte sein könnte.

Selbst der Humor, jene Komik, die entstehen kann, wenn verschiedene Charaktere aufeinander reagieren müssen, ist lediglich das Resultat einer präzisen Beobachtung. Die Komik entwickelt sich wie bei Tati nicht aus der Phantasie des Regisseurs, sondern aus dem, was ist. Dieser Blick auf die Personen ist liebevoll ironisch und nie denunzierend: Ein spießiger Angestellter, der ein junges Mädchen angafft und ständig nörgelt. Eine junge Frau schwatzt ständig mit dem Fahrer, für den sie sich offenbar sehr interessiert. Unter anderem redet man über die Wirtschaftskrise und die „Talkies“, wie die ersten Tonfilme genannt werden, die in den großen Städten zu sehen sind. Im ganz konkreten Sinn ist der Bus ein Stück Welt, ein winziger Planet im Universum.

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Nur die (unvermeidliche) Straffung der real vergangenen Zeit auf die Filmlänge durch die Montage und die liebevoll arrangierten Bildkompositionen erinnern daran, daß jener Eindruck von Spontaneität und Natürlichkeit nicht weniger das Ergebnis einer strikten künstlerischen Entscheidung ist, wie das expressiv, emphatische Kino. Nacherzählen läßt sich der Film nicht, es sei denn mit einem Einstellungsprotokoll. Trotzdem oder gerade deshalb bleibt das Gefühl, während der unverschämt kurzen Zeit des Films von nur 75 Minuten etwas erahnt zu haben von den unvorstellbaren Faccetten, aus denen Menschenleben zusammengesetzt sind: Wartende an einer Bushaltestelle. Bruchstückhaft erfahren wir, wie durch einen Zoom und einem Richtmikrophon, wohin die Leute wollen und manchmal auch woher sie kommen. Für einen Moment blitzen aus ihrer Anonymität die ganz persönlichen Sorgen und Wünsche auf, um sich dann wieder in der Unverbindlichkeit einer öffentlichen Busreise zu verbergen.

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Der Bus fährt auf schlecht gepflasterten Straßen durch die Gebirgslandschaft Japans mit seinen kleinen Dörfern. Shimizu, so heißt es, liebte die Aufnahme unter freiem Himmel und bevorzugte Originalschauplätze anstelle von Studios. Die Landschaften, die hier an uns und den Businsassen vorbeiziehen, erscheinen wie eine kleine Geographie des Landes, das zum größten Teil aus Gebirge besteht, so wie der Film „Geschichtsunterricht“ von Jean Marie-Straub und Danièle Huillet unter anderem auch eine kleine Geographie der Straßen Roms zeigt. Dieser winzige Bus inmitten der Landschaft, die weit vor ihm existierte, erscheint wie eine bescheidene und sympathische Definition von Kino: Manchmal sieht man den Bus und die Landschaften von außen, ein andermal erscheint dieses Außen eingerahmt durch die Fenster des Fahrzeugs.

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Während der Reise werden im Bus Pralinen herumgereicht oder Schnaps getrunken. Das Episodische unterwirft sich keiner Geschichte, sondern macht viele mögliche vorstellbar, die den Personen oder unserer Imagination vorbehalten sind. Einmal hält der Bus an, um eine Rast inmitten der Landschaft einzulegen. Die Leute steigen aus, reden oder vertreten sich die Beine. Plötzlich, eine kurze Einstellung des Himmels, durch den Wolken ziehen. Nichts ist im Kino ergreifender oder poetischer, als die Dinge, die sind. Der Fahrer begegnet wenig später einem koreanischen Mädchen, das ihr Heimatdorf verlassen will, da ihr Vater gestorben ist. Sie bittet ihn, der regelmäßig an diesem Ort vorbeikommt, auf die Blumen am Grab des Vaters zu achten. Als er ihr anbietet, sie mit dem Bus ein Stück mitzunehmen, lehnt das Mädchen ab um mit ihren Landsleuten weiterzuziehen. Japanische Zensoren hatten eine Szene herausgeschnitten, die sehr direkt die bittere Armut der in Japan lebenden Koreaner zeigt. Den genauen Blick Shimizus auf die Welt, die er zeigt, konnten sie dadurch nur gering beeinträchtigen.

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Aus dem fragmentarischen ist ein ganzes Leben vorstellbar. Begegnungen und Trennungen. Vorübergehende Begegnungen, von Menschen, die bald wieder auseinandergehen werden. Die unaufhörliche Bewegung der (Lebens-) Zeit. Aktion und Innehalten. Es scheint so, als bedanke sich die Welt für die Aufmerksamkeit, die ihr Shimizu entgegenbringt, mit Bildern, die jedes banale Ereignis mit Poesie segnen. Jemand sagt in dem Film: „This road is only 80 kilometres long, but a lot is happen here.“ Es gibt Momente, da erscheint der Film, obwohl zur gleichen Zeit entstanden, als japanisches Pendant zu Jean Renoirs „Une Partie de la Campagne“

Fast bin ich mir sicher, diesen Film schon einmal geträumt zu haben.

Rüdiger Tomczak

Erstveröffentlichung, shomingeki Nummer 1, November 1995

English Translation is available

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