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Ein Zug fährt von rechts nach links. Langsam und schwerfällig, eine Kurve beschreibend, bewegt er sich auf den Schienen, die ihn stur in eine Richtung führen. Wenig später betritt ein alter Mann ein Haus. Von einem Plattenspieler ist ein Lied zu hören, während Rajat, der Bewohner dieses Hauses auf dem Dach seine Habseligkeiten sortiert. Der Fremde überreicht ihm ein Bündel mit seltsamen Dokumenten und Fotografien von einer Frau und einem Kinderfoto des von Rajat. Sowie ein Eisenbahngleis manchmal in ein undurchschaubares Netz von Gleisen mündet, das sich in verschiedenen Richtungen verzweigt, beginnt sich der Ausgang einer ganz gewöhnlichen Geschichte in viele mögliche aufzulösen.
Rajat entführt mit einem Taxifahrer und einem Maler einen kleinen Jungen. Mit einem Auto fahren sie abgelegene Landstraßen entlang. Dabei begegnen sie verschiedenen Personen, die die Bewegung der Reise unterbrechen und durch ihre Präsenz die Geschichte für einen Moment in den Hintergrund treten lassen: Eine einsame Frau, die in einer Baracke an der Straße Tee und Nahrung verkauft, ein Mann mit einem spastisch gelähmten Kind, und ein gefesselter Mörder, der seine ganze Familie umgebracht hat.
Tagebuchaufzeichnungen Rajats, aus dem Off zitiert, die für sich schon eine Übereinanderlagerung von verschiedenen Zeitebenen sind. Völlig unvermittelt bricht an einigen Stellen die Tonspur ab, um ebenso überraschend wieder einzusetzen. Die Montage isoliert hier die einzelnen Sequenzen, läßt ihre Verknüpfungen als nicht zwangsläufig erscheinen. Kahini erscheint wie eine konventionell erzählte Geschichte, deren Verbindungselemente sich bereits zersetzt haben. In Wahrheit aber ist jeder Schnitt sehr präzise in seiner Absicht, die Kontinuität zu hinterfragen oder aufzulösen. Die Verwirrung, die entsteht, gleicht jener merkwürdigen Faszination, die es ist, beim Sehen eines Filmes oder dem Lesen eines Buches von Müdigkeit heimgesucht zu werden. Man ist unfähig kleinsten Zusammenhängen zu folgen. Der Film scheint sich völlig in seinen Momenten auszulösen, die ein größeres Gewicht bekommen, als die Handlung. An einer Stelle des Films sagt jemand in dem Vorführraum eines Kinos: „Schlaf und Kino haben etwas gemeinsam. Beide sehnen sich nach Dunkelheit.“
Am Ende kehrt der Film wieder an seinen Anfang zurück. Rajat betrachtet die Fotografien, die ihm der Fremde gebracht hat. Sein Kinderfoto erweist sich als identisch mit dem des entführten Jungen. Der Film könnte anders strukturiert noch einmal von neuem beginnen. So erscheint er jetzt als ein Geflecht von verwirrenden und widersprüchlichen Gedankengängen eines Schriftstellers, der versucht aus Fragmenten seiner Biographie eine erfundene Geschichte zu erzählen. Für Malay Bhattacharia ist Montage auch gleichzeitig eine Kunst des Sehens und weniger eine technische Möglichkeit des Filmemachens.

Rüdiger Tomczak

 

 

EIN GESPRÄCH MIT MALAY BHATTACHARIA

 


Mich würde interessieren, welchen Anteil die Arbeitsphasen des Drehbuches, der Inszenierung und der Montage an der Konstruktion ihres Films hatten.


M.B:Zuerst einmal zur Konstruktion des Drehbuches: Man sieht, daß hier nur eine sehr dünne Erzählung existiert. Zunächst geht es um eine Entführung. Die ist so etwas wie das strukturelle Rückgrat. Wir haben das dann ausgenutzt, um unser Thema auf dieser narrativen Struktur aufzubauen. Zuerst einmal hat das bei einigen Zuschauern Interesse an dem Film geweckt. Wir hätten die erzählerischen Elemente auch ganz vermeiden können. Aber das ist so eine Bedingung für uns Filmemacher und so haben wir einen Kompromiß gemacht, um auf dieser Basis den Film zu entwickeln. Die Arbeit an dem Drehbuch nahm die meiste Zeit in Anspruch.
Während der Dreharbeiten haben wir den Film erneut weiterentwickelt. Ich war darauf vorbereitet, aus jeder Situation heraus das Beste zu erreichen. Es hat die ganze Zeit Improvisationen gegeben. Wir sind niemals vom Thema abgewichen, haben aber sogar während der Montage noch improvisiert. Einige Dinge haben wir weggelassen und andere Szenen, die sich nicht explizit auf das Thema beziehen, drinnen gelassen.


Sie haben einmal so etwas ähnliches gesagt, wie, daß die Zuschauer beim Sehen ihren eigenen Film machen, oder präziser: daß sie ihn für sich selbst ganz neu schneiden.


Das hat mit meiner eigenen Erfahrung, wenn ich einen Film sehe, der mich inspiriert, zu tun. Da gibt es dann plötzliche Anstöße, die mich den Film weiterentwickeln lassen. Ich habe dann meinen Film mit offenen Räumen gemacht, wo die Zuschauer mit ihren kreativen Fähigkeiten einsteigen können. Ich meine, daß jeder Zuschauer seine eigene Kreativität hat. Das ist natürlich von Person zu Person verschieden. Diese Öffnung ist direkt in den Film implantiert. Erst dann wird es ein ganzer Film, denn der Zuschauer ist ein Element. Man kann ihn nicht von dem Film trennen. Das ist ein großer Kreis. Der Film ist noch in dem Produktionsstadium, wenn er auf der Leinwand zu sehen ist. Durch die Beteiligung des Zuschauers schließt sich der Kreis. Als ich den Film beendet hatte, fühlte ich mich ziemlich hilflos. Ich war viel zu sehr in die gesamte Technik der Herstellung verwickelt, als daß er mir hätte neue Ideen eröffnen könnte. Das braucht seine Zeit. Das delegiere ich dann an die Zuschauer weiter. Feedback und neue Inspirationen von meinem Film bekomme ich dann durch die Reaktionen der Zuschauer. Dann erst ist der Film auch für mich komplett. In meinem Film gibt es einen Moment, wo Rajat in eine Telefonzelle geht und eine Nummer wählt. Das Publikum denkt sofort, daß es sich hier um eine Entführungsstory handelt. Man denkt, daß er Lösegeld fordert. Basierend darauf sind wir dann unseren eigenen Weg gegangen. Hier treffe ich mich mit meinem Publikum, wenn auch auf verschiedenen Ebenen. Es geht eigentlich überhaupt nicht um Kidnapper oder Lösegeld.


Neben dem Aspekt Film und Reaktion des Publikums, gibt es ein anderes faszinierendes Element in dem Film. Ich denke da an den Satz. „Kino und Schlaf haben etwas gemeinsam. Beide sehnen sich nach der Dunkelheit.“ Das erinnert mich an die Situation, wenn man während eines Filmes sehr müde wird, kaum noch einer Geschichte folgen kann und jeder einzelne Moment plötzlich ein großes Gewicht bekommt.


Ja, ich habe sehr ähnliche Erfahrungen gemacht. Es gibt Bilder, die bringen dich zu einer ganz anderen Geschichte, die nicht unbedingt in den Kontext der Filmstory gehört.


Bei vielen asiatischen Regisseuren, die eigentlich sehr wenig oder kaum filmtheoretische Essays verfaßt haben, finde ich dennoch neben Poesie auch oft, direkt in den Bildern sehr viele Gedanken über das Kino.


Das ist eine sehr interessante Beobachtung. Meine Ideen über das Kino sind auch reflektiert in dem Film, wie ich ihn strukturiert habe. Die Zahl drei spielt eine wichtige Rolle in meinem Film. Die drei Personen, der Intellektuelle, der Taxifahrer und der Maler. Das sind eigentlich drei Aufspaltungen von ein und derselben Person. Wir haben die drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder Realität, Imagination und Absurdität. Alle diese Elemente durchdringen oder berühren sich gegenseitig. Wir haben versucht, den Eindruck zu vermitteln, daß die drei Charaktere in der Zeit umhertreiben. Das kann in jeder Zeit stattfinden, Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Wie in der Wirklichkeit kann man diese Perioden nicht wirklich voneinander trennen. Wir treiben in Imagination, Nostalgie, Erinnerungen und Tagträumen. Ich möchte den Zuschauer dazu bringen, sich seine eigene Geschichte zusammenzustellen. Ich denke, das ist ein sehr kinematografisches Experiment und eine Erfahrung, die nur im Kino möglich ist. Meine persönliche Vorstellung vom Leben ist, daß es hier nie eine komplette Geschichte gibt. Es gibt Teile von Geschichten, die eine Tendenz haben sich zu verbinden, sich aber nie zu einer Geschichte vervollständigen.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Rüdiger Tomczak, 17.2. 1997, Hotel Savoy

Erstveröffentlichung shomingeki Nr. 4, Juli 1997

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 you will find The English version here  with added comments.

Grün und gelb leuchten die Reisfelder. Nham, ein Siebzehnjähriger arbeitet mit anderen in einer Ziegelbrennerei. Man sieht ihm bei der Arbeit zu, wie er schwitzt und keucht. Danach legt er sich erschöpft auf die Ziegel. Die anderen, ebenfalls müde von der Arbeit, versammeln sich erst einmal, um sich zu entspannen. Den Lohn, den er bekommt, gibt er seiner Schwägerin. Da läuft er auf dem Feld nach Hause, das jetzt fast das ganze Bild füllt. Der Rahmen des Films, das ist vor allem das Ernten und Pflanzen der Reisfelder. Ehrfürchtig pflückt er eine Reisähre, schmeckt sie und blickt in den blauen Himmel, wo ein Flugzeug vorbeifliegt.

Nhams Vater ist im Krieg gefallen. So lebt er mit seiner Mutter, seiner kleinen Schwester und der Schwägerin Ngu zusammen. Der Bruder ist fortgezogen, um irgendwo Arbeit zu finden. Hin und wieder erhält Ngu einen Brief von ihm, der sie vermutlich nur hinhält, und ihr schreibt, daß er vorerst nicht heimkehrt. Nham liebt Gedichte, und arbeitet mit seiner Familie in den Reisfeldern. Zwischen ihm und seiner Schwägerin existiert eine nie ausgesprochene Liebe. Aus dem Off kommentiert er den Film als etwas bereits Vergangenes. Die Wahrnehmung des sensiblen Heranwachsenden gleicht der von Harriet in Jean Renoirs The River. In seinem Erleben treffen sich eine Vielzahl von komischen und traurigen Episoden aus dem Leben der Dorfgemeinschaft. Beiläufige Anekdoten durchdringen die subjektive Erzählung Nhams: Eine Fernsehantenne wird auf dem Dach einer Hütte montiert. Kinder mokieren sich über eine Fernsehsendung, in der Frauen die neueste Bademode präsentieren. Ein Schwein läuft in der Küche herum. Bauern unterhalten sich über das Leben in der Stadt. Scheinbar nebensächliche Ereignisse wuchern regelrecht um den Handlungsstrang. So wie ein Kind aufgeregt von erlebten Dingen erzählt, scheint der Regisseur nicht in der Lage zu sein, von den Nebensächlichkeiten abzulassen, die um Nhams Geschichte herum passieren.

Nham fährt mit dem Rad zum Bahnhof um eine junge Frau aus der Nachbarschaft abzuholen, die vor Jahren aus Vietnam geflohen ist. Manchmal begleitet ihn die Kamera aus der Nähe, ein anderes Mal beobachtet sie seine Fahrt aus der Distanz. Einmal ist der Blick absorbiert von den Bewegungen, ein anderes Mal bleibt er auf Distanz. Das verflacht manchmal den filmischen Raum wie zu einem Rollbild.

Quyen, die Besucherin, kehrt in das Dorf ihrer Kindheit zurück. Sie trägt eine Sonnenbrille und hebt sich ab von den Dorfbewohnern wie eine Ausländerin. Sie sagt, daß sie das Land verlassen habe, um ihrem Ehemann zu entkommen. Wenn sie von einem Flüchtlingslager in Honkong erzählt, dem sie nur durch eine Heirat mit einem Amerikaner entkam, denke ich an die Bootsflüchtlinge, die massenweise Vietnam verlassen mußten. Das Dorf erscheint fast als ein utopischer Ort, in dem sich Freuden und Leiden eines ganzen Volkes versammeln: eine Witwe, die über ihren im Krieg gefallenen Mann trauert, und die Auslandsvietnamesin Quyen, die von ihrer Kindheit träumt. Es geht um das Zurückkehren zur Erde in einer Welt des Fortschritts, der hier nur in kleinen Zeichen eindringt. Quyen, die Fremde, an die sich kaum einer erinnert, entdeckt ihre Heimat wieder und erkennt gleichzeitig die Entfremdung von ihr.

Ich war seltsam berührt von der Art, wie die Menschen die Dinge berühren oder sich manchmal auch nur durch das Haar streichen. Die Technik dieses Films selbst erscheint vollkommen hinter dem zurückzutreten, was man sieht. Manchmal schweift ein Blick zum Fluß, auf dem ein Boot treibt oder in dem Kinder baden. Ein anderes Mal sieht man, wie sich die Pflanzen im Wind bewegen. Vergleichbare Bilder im europäischen Film finde ich auch hier nur in einem Film von Jean Renoir, Une partie de campagne.Auch die Identität des Erzählers Nham scheint sich oft aufzulösen in seine Begegnungen mit den Geschichten der anderen, und vor allem in seinen sinnliche Empfindungen. In einer Szene beobachtet Nham heimlich Quyen, die im Fluß badet. Da nimmt er eines ihrer Kleidungsstücke um daran zu riechen. Als die Frau ihn bemerkt, rennt er erschreckt fort, in den Feldern verschwindend.

Ein rituelles Fest, den Ahnen gewidmet, mit Tänzen und Gebeten. Am Abend dannach wird ein hinreißendes Puppenspiel aufgeführt. Männer, die sich hinter einem Vorhang verbergen, lassen die Puppen auf dem Wasser tanzen. Man sieht die faszinierten Blicke von Kindern und Erwachsenen. In diesem Moment denke ich nicht an den Kontext dieses wunderschönen Schauspiels und einer mir fremden Kultur. Da fühle ich mich erinnert an das erste Puppenspiel, dem ich in meinem Leben zugesehen habe.

Es gibt zwei Szenen, an die ich mich besonders stark erinnere. Das sind eindrucksvolle Momente, die zeigen, daß wahre Erotik immer den größtmöglichen Respekt vor der Schöpfung bedeutet. Ngu, die einsame Schwägerin wirft sich in einem Moment der Verzweiflung um Nhams Hals. Er erwidert diese Umarmung. Eine Weile stehen sie, eng umschlungen. Erschrocken durch die unerwartete Ejakulation Nhams, weicht sie plötzlich zurück. Da sieht man Nham, wie er erstaunt und ein wenig verstört die Spermaflüssigleit an seinen Fingern fühlt. In einer anderen, der zärtlichsten Szene, entdecken Nham und seine Schwägerin ein Nest mit winzigen Jungvögeln. Ngu streichelt sie und ihre Zunge berührt sich mit dem kleinen Schnabel eines Vogels. Dabei lacht sie und singt ein Lied wie ein Kind, das ganz mit sich selbst beschäftigt ist. In Dhang Nhat Minhs Film ist ein fast physisches Empfinden für die zärtliche Liebkosung von Körpern zu spüren.

Betrunkene Lastwagenfahrer verursachen den Tod zweier Kinder, unter ihnen Minh, die kleine Schwester Nhams. Da dringt der Tod mit aller Gewalt in die Welt des sensiblen Jungen ein. Von da an erscheint der Film wie ein unendlich trauriger Abschied. In einer Vision sieht Quyen, die am Bahnhof auf ihre Abreise wartet, ein Boot auf dem die beiden toten Mädchen stehen und ihr zuwinken. Sie verabschiedet sich von Nham. Der blickt dem abfahrenden Zug noch lange hinterher. Für Nham ist Heimat etwas konkretes, sinnlich erfahrbares, für Quyen, die Exilantin mit dem traurigen Lächeln, bleibt sie nicht mehr als ein verlorener Traum.

Nham muß am Ende des Films seinen Militärdienst ableisten. Auf einem Transportfahrzeug zwischen anderen Soldaten sitzend, schreibt er folgende Sätze auf einen Zettel: Mein Name ist Nham. Ich vermisse mein Dorf. Aber ich werde bald zurückkehren. Da wirft er das Stück Papier aus dem Fahrzeug. In einer Einstellung sieht man die schweren Reifen des Wagens auf einer gepflasterten Straße, die sich bedrohlich zwischen ihn und seine geliebte Erde drängen. Der Zettel schwebt durch die Luft. Die Liebeserklärung Nhams an seine Heimat ist verloren. Auf einem Reisfeld steht Ngu, die Reissetzlinge pflanzt. Mit einem Bambushut auf dem Kopf und tief gebückt, verrichtet sie die Arbeit, von der das Leben dieser Dörfer abhängt, dann friert das Bild plötzlich ein.

Thuong Nho Dong Que ist ein merkwürdiger Film. Bis auf ein paar auffällige Kunstgriffe und wenige Einstellungen habe ich seine Form fast völlig vergessen. Da ist so viel Zärtlichkeit für seine Personen und Aufmerksamkeit den kleinsten Dingen gegenüber, an der jede Analyse scheitern muß. Das, was ich gesehen habe und fast glaubte berührt zu haben, erscheint mir wie eine persönliche Erinnerung, für die ich selbst eine Form finden muß. Das Wunder dieses Films ist die Sehnsucht, die er hervorruft, diese Welt mit allen Sinnen des Körpers wiederentdecken zu wollen.

Rüdiger Tomczak

Hier sind alle meine Texte über Dang Nhat Minh in VIETNAMESISCH zu lesen.

   (shomingeki Nummer 4, vergriffene Ausgabe)