(20.10.20) Heute morgen, nach dem Aufwachen, als ich an L’enfant sauvage zurückdachte, schossen mir die Tränen in die Augen. Den Film hatte ich am Abend vorher auf arte gesehen, zusammen mit La mariée était en noir. Meine Einschätzung von früher hatte sich so ziemlich verkehrt: ich fand Die Braut trug schwarz belanglos, mit Schwächen in der Inszenierung, ich mochte da nicht mitgehen, wiewohl schon ein ‚Thema’ von Truffaut darin anklingt.
Ganz anders Das wilde Kind – das ist herzzerreissend. Man sieht sehr gut, was die Zivilisierung einem Kind antut – jedem Kind. Zugleich weiss man: es kann nicht anders sein. Victor (Jean-Pierre Cargol) reisst an einer Stelle aus, will nicht mehr diese ‚Fron des Lernens’ auf sich nehmen – vergnügt sich lustvoll in freier Natur und schläft im Wald. Doch er kommt zurück, nimmt die Hand von Dr. Itard und der Haushälterin Madame Guérin und will die Liebkosung an den Wangen und im Haar spüren.
(Das ist Truffauts Film, der Quatre Cents Coups am nächsten steht.)
Ein ähnliches Gefühl hatte mich befallen bei einem Film, wo es um einen im Eis eingefrorenen Menschen aus der Vorzeit geht, der in einem Labor in der Arktis wiederbelebt wird. – Nach einigem Herumsuchen wird mir klar: das kann nur Iceman / Rückkehr aus einer anderen Welt von Fred Schepisi (USA 1984) sein. Die Auseinandersetzung geht darum, wie die Wissenschaft mit diesem Menschen umgeht – wie sie ihn, mit der ihr innewohnenden Selbstverständlichkeit, zum Objekt ihrer Forschung degradiert. Dem entgegen stehen eine Anthropologin und ein Anthropologe, die ihn als Mitmenschen sehen und sich mit ihm anfreunden.
Jedenfalls, dieser Geschichtssprung ist so, dass man für die unendliche Verlorenheit dieses menschlichen Wesens Mitgefühl zu empfinden beginnt – seine Verhaltensweisen als menschlicher ansieht als die der ‚modernen Wissenschaft’ und deren immer weniger reflektierte Usancen verdammt. Klar ist auch, dass der ‚Iceman’ von Anfang an dem Tod geweiht ist. Am Ende, als er sich aus dem Gefängnis dieser künstlich angelegten Naturwelt im Labor hinaus in die reale arktische Welt befreit, geht er, so könnte man es vielleicht deuten, auf die ‚Traum-Reise’ der Inuit, kehrt zu seinen Ahnen zurück. Als ein Helikopter über ihm auftaucht, sieht er in ihm ein rettendes göttliches Wesen, hängt sich an das Fahrgestell und entschwebt in den Himmel – die letzten Einstellungen zeigen ihn allein in der Luft schwebend (mit dokumentarischen Flashbacks auf das Leben der Inuit), wie suspendiert zwischen den Zeiten.
(Ich verweise im übrigen auf die „Songlines / Traum-Pfade“, wie Bruce Chatwin sie 1987, nach den Auskünften seines Freundes Arkady und aus eigener Ansicht, für die australischen Ureinwohner beschrieben hat.)
Jacques Tourneur hat den US-Amerikanern den schönsten Heimatfilm geschenkt, der sich denken lässt: Stars In My Crown (USA / MGM 1950, schwarz/weiss, 89 Minuten). Nach dem gleichnamigen Buch von Joe David Brown, erschienen 1947.
„Stars in My Crown shines with a powerful simple dignity.“ (Letzter Satz des Einführungstextes auf der DVD.)
Ist in den Südstaaten situiert, unmittelbar nach Ende des Bürgerkriegs. Joel McCrea spielt einen aufrechten Prediger, der in der Kleinstadt Walesburg ankommt und dort, wo die meisten Menschen versammelt sind – in der Bar –, ankündigt, er übernehme das Pfarramt. Als die Säuferrunde in gellendes Lachen ausbricht, zieht er seine Pistolen, legt sie auf den Tresen, verschafft sich so den nötigen Respekt, nimmt die Bibel zur Hand und beginnt seine erste Predigt mit den Worten: „Im Anfang war das Wort …“. Er gewinnt Anerkennung in der Gemeinde als ‚ambulanter Seelsorger’, und als aus der Ansiedlung ein Dorf geworden und eine kleine Kirche errichtet worden ist, kann er seines Amtes walten. Er besteht grosse Prüfungen: zuerst, als Typhus ausbricht – und er die Warnungen des Arztes (James Mitchell) nicht ernst nimmt; dann als der Koo Kux Klan den alten, nun befreiten Sklaven Uncle Famous Prill (Juano Hernandez) lynchen will, weil der nicht bereit ist, Haus und Grundstück an den Geschäftsmann Lon Backett (Ed Begley) abzugeben. Da ist eine Fraktion im Dorf, die noch der Sklavenhaltermentalität anhängt und sich um den zürnenden Geschäftemacher schart: sich Kutten überstülpt, erst Famous Prills Grundstück verwüstet und ihn dann mit dem Tod bedroht. Dem Pfarrer gelingt es, mit einer Notlüge, die Situation in letzter Minute zu entschärfen (er liest ein fiktives Testament vor, in dem der Todgeweihte, namentlich Personen begünstigt, die sich in der Lynch-Meute befinden).
Was für hübsche, angenehm anzuschauende Frauengesichter und -gestalten gibt es in diesem Film! Einmal Ellen Drew, die Josiah Gray’s Gattin wird, also die Pfarrersfrau, dann Amanda Blake als Schullehrerin, die sich in den Arzt verliebt, aber nicht mit ihm wegziehen will. Getragen wird der Film auch von den je nach Situation inbrünstig gesungenen Liedern: ‚Will There Be Any Stars in My Crown?’, ‚Shall We Gather at the River?’, ‚Beulah Land’, ‚Come Thou Fount of Every Blessing’ u.a.
Und es gibt auch ein Kinderlied, ‚Nine Green Bottles’ (das den an Typhus erkrankten Jungen aufrichten soll) – also viele Kinder und die eine Kinderperspektive, nämlich die von John (Dean Stockwell), dem verwaisten Neffen der Pfarrersfrau. Sein Bericht wird dann zur Erzählstimme im Film (gesprochen von Marshall Thompson), zurückschauend, nachdem viele Jahre vergangen sind.
Man sollte auch auf das Produktions-Datum des Films achten, der ja noch die alte, menschliche Achtung auch den Schwarzen gegenüber predigt. Keineswegs konform mit dem, was da gerade die Hexenjäger vom ‚Unamerikanischen Komitee’ im Sinn hatten.
Das Ganze ist eigentlich eine Ode an die Wärme und Festigkeit der old time religion, verkörpert auch in den Zeilen des titelgebenden Liedes.
Le Combat dans l’île / Der Kampf auf der Insel von Alain Cavalier (F 1961): ich hatte im Kopf, ich hätte den Film schon mal gesehen – aber bei diesem Sehen jetzt (15.8.2021, ab DVD) war alles ganz frisch und wie nie geschaut.
Romy Schneiders erstes Film-Engagement in Frankreich (nach der Arbeit mit Visconti am Theater) – ich habe sie in dem Film bewundert, sie sah so anziehend aus und war sehr gut fotografiert worden; ihr Französisch ‚impeccable’, mit einem leichten deutschen Akzent. Schönes Schwarz-Weiß auf 35 mm (Kamera Pierre Lhomme) – das gibt es seither nicht mehr.
Ich finde auch den Film selbst überraschend – das ist ein gutes Psycho- und Soziogramm eines Rechtsextremisten. Weshalb hat Combat dans l’île dann ein so verdunkeltes Image und wird bestimmt auch selten gesehen? Gab es da Rivalitäten und Ablehnungen, die mit Louis Malles Status zu tun hatten? (Er hat bei dem Film supervision gemacht: er wie auch Alain Cavalier, der Regieassistent war bei seinen Filmen, gehörten nicht der Nouvelle vague an.) Aber wahrscheinlich hängt das eher mit dem ‚Bannstrahl’ der französischen Zensur zusammen, die in dieser rechtsextremistischen Gruppierung in Combat dans l’île wohl Parallelen zur OAS (= Organisation de l’armée secrète) gesehen hat. Auch Cavaliers zweiter Film L’Insoumis / Der Deserteur von 1964 [deutscher Titel In der Hölle von Algier], den ich damals im Kino in Zürich gesehen habe, ist zensiert und zurückgestutzt worden – immer noch wegen des Algerienkriegs!
Was die ersten deutschen Rezensenten anscheinend nicht wahrnehmen konnten (von Enno Patalas gibt es eine längere Kritik in ‚Filmkritik’ 9/62; in der Punktetabelle kam der Film generell schlecht weg), ist die schöne, ja bedeutsame Rolle, die Romy Schneider hier zugesprochen bekommen hat! Mit einem Bezug auch zu Deutschland, wenn man ihn denn sehen will … Romy Schneider als Anne lebt ja mit Clément (Jean-Louis Trintignant) zusammen – ein gutsituiertes, anscheinend sorgloses Paar. Clément, der Industriellensohn, hat allerdings eine Seite, von der er Anne strikt ausschliesst: er frequentiert Sitzungen einer rechtsextremen Gruppierung, hängt Serge (Pierre Asso) an, der ihn zu einem Anschlag auf Terrasse (Maurice Garrel), einen linksstehenden Journalisten, anstiftet. Zwar macht der mit einer Bazooka vom Dach aus ausgeführte Anschlag Schlagzeilen, doch Terrasse ist gewarnt worden, hat das telefonische Gespräch aufgezeichnet. Clément hört bei der Berichterstattung im Radio die Stimme von Serge, was schlagend beweist, dass der ihn verraten hat. Seine Faschistenehre gebietet es, dass er ihn in Argentinien (unter deutschen ‚Exilanten’) aufspürt und tötet.
Anne hatte gleich in der ersten Szene des Films (im Auto) allergisch auf Serge reagiert. Sie bekommt natürlich mit, was vor sich geht und entwickelt zunehmend Abscheu vor Clements politischen Affiliationen. Andrerseits liebt sie ihn, vor allem auch körperlich, und möchte ihn nicht verlieren. Als er im Versteck auf dem Land mit dem Auto abgeholt wird und aufbricht, kämpft sie mit aller Macht darum, ihn zurückzuhalten, wird aber von ihm brutal zurückgestossen. Sie stürzt zu Boden – erkrankt in der Folge und braucht eine Zeit, um zu genesen. Sie befindet sich also in diesem Landhaus, in dem ihr Mann und sie zuerst Unterschlupf bekommen haben – nämlich bei Clements Jugendfreund Paul (Henri Serre, der ‚Jim’ aus Jules et Jim von Truffaut). Als sie mitbekommt, dass er Drucker ist, meint sie : „C’est un beau métier!“ (was insofern vielsagend ist, wenn man weiss, welche Rolle die Drucker in Frankreich in der Linken, angefangen bei der Pariser Commune, gespielt haben). Die fürsorgliche und entspannte Atmosphäre im Haus lässt sie wieder zu sich kommen, zumal sie ein Heft mit einem Theaterstück entdeckt, das Pauls Frau drei Monate vor ihrem Tod verfasst hat. Paul drängt sie, es doch aufzuführen – ihre Hemmungen zu überwinden, die Lust am Spielen, die sie insgeheim hegt, wiederzuentdecken.
Als Clément wie ein Gespenst aus Südamerika wiedererscheint, ist für ihn klar, dass er seinen Jugendfreund zum Duell herausfordern muss – denn Paul und Anne sind ein Paar. Als Paul keine Lust hat, darauf einzugehen, schlägt er ihn, begleitet von zwei rechten Kumpanen, brutal zusammen, schießt dann auch in die Scheiben des Land-Häuschens, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen – zwingt ihn so zum Zweikampf auf der Insel.
Ich schildere das hier in der Kürze etwas notdürftig, der Film selbst ist komplexer, intelligent ‚gebaut’. Schön anzuschauen jedoch, wie Romy Schneider sich mit und in ihrer Rolle neu erfindet, die elenden Blatzheims und den deutschsprachigen, nazistisch verseuchten Nachkriegsraum hinter sich lässt. Sie scheint sich im Spiel selbst in die zu transformieren, die sie in Frankreich dann auch als Person sein wird.
Gundermann Revier von Grit Lemke (2019) ist ein Referenzfilm – auf den könnte ich mich beziehen. (Also bei Gelegenheit und in den richtigen Zusammenhängen.)
Ich habe gerade (5.10.2021) angefangen, „Die Kinder von Hoy“ von Grit Lemke zu lesen – und die ersten Seiten haben mich schon mal richtig frohgestimmt. (Bernhard S. hat mir das Buch bei unserem letzten Treffen zugesteckt. Er „habe es in einem Rutsch gelesen“.)
Wie beziehen? Ich will ja an der (aussichtslosen) Idee des Sozialismus festhalten – also muss ich schon die Zeugnisse aus der Zeit des ‚real existierenden Sozialismus’ ernst nehmen. Vor allem auch die negativen Seiten. Das sind immerhin Erfahrungen. Aber ich verwahre mich natürlich dagegen, die so auszuschlachten, wie es in propagandistischer Absicht – mit dem ganzen Freiheit- und Demokratie-Gedöns – im Westen geschieht. Damit hatte schon Gerhard Gundermann zu tun – ich finde, er hat sich dabei ganz gut geschlagen. (Siehe etwa die Talkshow in den neunziger Jahren bei Anne Will, die ja in solchen Fällen weniger die Rolle der nachfragenden Journalistin spielt als die inquisitorisch vernichtende.)
Grit Lemke liefert die Sicht auf den gelebten Alltag, angefangen bei der Kindheit in Hoyerswerda, schildert die erstaunlich lebendige und vielfältige Kulturszene. Vor allem auch mit den Statements ihrer Freunde und Freundinnen – und dieses rekomponierte ‚Wir’ nimmt für sich ein. Das war eine Kultur und Kunst im Abseits, im Schatten der ‚Schwarzen Pumpe’, dem Gas-Kombinat, das die ganze DDR mit Energie versorgte. Offenbar wurde da von der lokalen ‚Aufsichtsbehörde’ nicht so genau hingeschaut, wohl aber von dem einen oder anderen Schriftsteller (Heiner Müller hat die Jugendlichen besucht, in Hoyerswerda auch übernachtet, es gab Verbindungen zu Christa Wolf und Volker Braun, Brigitte Reimann lebte von 1960 bis 1968 in Hoyerswerda).
Es mag wohl sein: ‚sie kannten ja nichts anderes’. Aber die im Westen auch nicht. Selbst, wenn sie in die Südsee reisen konnten. Die = wir waren auch im System eingeschlossen. Also kapitalistisch zugerichtet. Was das ist ‚ein Arbeitsplatz’, weiss man eigentlich, wenn man einen hat – aber kann man so darüber reden, dass die Verhältnisse klar werden? Es fehlen die Worte. Die Mainstream-Medien (mit ihren öden ‚Meinungsträgern’) sorgen dafür, dass sie weiterhin fehlen – und das TV liefert Surrogate, die das ökonomische System imitieren, stachelt mit Quiz-Sendungen das Gewinnstreben an und schüttet Prämien aus, verunmöglicht den geringsten Erkenntnisgewinn. (Siehe etwa „Deal or No Deal“. Auch die ganzen Rate-Spiele häufen Mengen unnützes Wissen an, verkehren den ‚Bildungsauftrag’ in sein Gegenteil. Die frühen Unterhaltungssendungen wie „Einer wird gewinnen“, „Wetten dass“ u.a.m. liefen ja nach US-Muster ab. „Nur nicht nervös werden“ von 1960, nach „Beat the Clock“, wurde, wie der damalige Moderator Joachim Fuchsberger in einer Talkshow erzählt, nach psychiatrischen Studien für das US-amerikanische TV konzipiert und dann auch für die reeducation eingesetzt, um das ‚Verrückte’ eines Volkes zurechtzurücken. – Siehe Overgames von Lutz Dammbeck, BRD 2015, F + s/w, 157 Minuten.) Und vor dem blöde machenden Werbe- und Kommerzelend gibt es sowieso kein Entrinnen, das dringt durch alle Ritzen.
Notwendiger Nachsatz: Die ‚proletarische Kultur’ damals in Hoyerswerda kannte eigentlich sehr wohl ‚etwas anderes’ – vielleicht müsste man auch auf die von dem obengenannten ‚Wir’ am 3. Oktober 1990 noch in der DDR gegründete ‚Autonome Republik Ladanien’ schauen. Benannt nach ‚der Laden’, dem Kulturort in Hoyerswerda, dessen Name den Büchern von Erwin Strittmatter entlehnt war. „Mit dem Pogrom 1991 und daran anschließenden Verfolgungsjagden auf alles, was ‚links’ verortet wird, endet in Hoyerswerda auch die Ära einer erstaunlichen Alternativkultur. Der Schließung fast sämtlicher Betriebe der Region folgt der Exodus einer ganzen Generation und Rückbau der halben Stadt, dem schließlich auch der Laden zum Opfer fällt. Es braucht Jahre, bis sich wieder eine Kulturszene etabliert hat. Aber es gibt sie, denn noch immer gilt: Ladanier aller Länder, vereinigt euch!“ (Grit Lemke, „Der kurze Herbst der Anarchie. Bei der Einheitsfeierei vergessen: Hoyerswerda trat nicht bei – und gründete eine eigene Republik.“ ND, 04.10.2020.)
Nico, 1988 von Susanna Nicchiarelli (Italien, Belgien 2017, 93 Minuten).
Ich habe, vor kurzem, nur den hinteren Teil des Films auf arte gesehen – weil ich dachte, was kann das schon sein, ein Spielfilm über die letzten Jahre von Nicos Leben. Fand dann aber ausserordentlich, was ich da zu sehen bekam und habe jetzt den Film ganz gesehen, DVD mit deutschen Untertiteln (die Sprache ist englisch).
Tryne Dyrholm ist hervorragend, sogar das Timbre ihrer Singstimme bringt etwas rüber von Nicos Stimme (sie singt alle Songs selbst). Und die Dialoge sind auch gut. Man merkt, es ist eine ausführliche Recherche in diesen Film eingegangen.
Als Nico mit ihrem ‚Road Manager’ Rick (John Gordon Sinclair) im Auto sitzt und der sie mit ‚Nico’ anredet, sagt sie „Don’t call me Nico. Call me by my real name, Christa “. Sie fragt ihn, ob er Jude sei – und als er bejaht, fragt sie, ob es ihm etwas ausmache, mit einer Deutschen zusammenzuarbeiten. Am Ende des Road-Trips gesteht sie, dass sie ihm über ihren „rebellischen Vater“ in der Nazizeit etwas vorgelogen habe – und er hat ihr da gerade gesagt, dass er sie liebe (spät also, der Trennung Rechnung tragend, denn die Truppe löst sich gerade auf). Dieses Verhältnis Christa – Rick ist darstellerisch und dramaturgisch ein Angelpunkt des Films, insofern als Rick eigentlich (von seinem Aussehen und seiner Mentalität her) überhaupt nicht in diese Truppe von Junkies passt und trotzdem loyal ist. Der Höhepunkt dieser Loyalität ist wirklich bei einem illegalen Auftritt in Prag erreicht, als Nico bei den Unterhandlungen und den ganzen Verständigungsschwierigkeiten mit dem unbedarften Jüngelchen, das das Konzert arrangiert hat, das Wort herausschreit, woran es fehlt: Heroin. Aber sie selbst ist dann auch loyal und tritt auf: der Saal ist voll mit jungen Menschen, die nach ihrer Musik hungern. Nach einer Nummer ist dann Schluss, weil die Polizei im Gänsemarsch aufmarschiert und der Veranstaltung ein Ende setzt. Die Truppe muss fluchtartig das Weite suchen in ihrem Bus. Aber nicht ohne dass Rick noch rettet, was Christa im Hotel zurückgelassen hat: ihr Tonbandgerät samt Mikro, mit dem sie Geräusche sammelt. Später erklärt sie, sie suche ein bestimmtes, zusammengesetztes Geräusch, das sie gegen Ende des Kriegs in Berlin gehört habe, als die Bomben fielen, und versucht, es so genau wie möglich zu beschreiben. (Die Visualisierung des ‚Feuerscheins’ am Horizont mit Mutter und Tochter im Vordergrund – noch vor dem Vorspann – hätte die Regisseurin sich allerdings sparen sollen.)
Es geht bei diesem Film also auch und vor allem um das, was Christa Päffgen kann und will – ihre eigenen Lieder singen und nicht ständig auf Velvet Underground angesprochen werden. Bei einem Radio-Interview wird sie nach ihren „kommerziellen Aussichten“ befragt – und sie tut, mit der ihr eigenen Offenheit, ihren Abscheu vor dieser alles durchdringenden Kommerzialität kund.
Ich weiss jetzt wieder ein bisschen besser, weshalb ich Nico / Christa Päffgen immer gemocht habe: im Timbre ihrer Stimme (tieflagiger als die von Tryne Dyrholm) ist etwas von dem präsent, was für mich die kindliche, dann erwachsen gewordene deutsche Nachkriegsexistenz ausmacht. Jedenfalls derjenigen, die ihre auch künstlerische und politische Sensibilität nicht drangegeben haben. Das Verletzte, Verletzliche – das Rebellische, der Behauptungswille, auch über Abgründe hinweg. Der Film bringt das gut zum Ausdruck.
Gestern Abend (24.12.21) bin ich endlich La Caduta degli Dei (Götterdämmerung) von Luchino Visconti wiederbegegnet, DVD aus der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. (Istituto Luce 2000, 150 minuti.) Wir haben diesen Film 1969 oder 1970 gesehen, als er ins Kino kam – und waren arg beeindruckt. (Der deutsche Titel ist Die Verdammten – The Damned, das hatten die US-Amerikaner durchgesetzt.)
Ich habe mich öfter gefragt, weshalb man diesen Film kaum noch zu sehen bekommt, und habe jetzt nur diese italienische Version mit englischen Untertiteln gefunden. Neben der Synchronisation hört man immer wieder deutsche Wörter, Sätze, vor allem bei den Liedern – etwa wenn Helmut Berger als Transvestit auf der Bühne steht. Die Familie ist versammelt zum Geburtstagsfest für den Patriarchen des Konzerns, Joachim von Essenbeck. (Der Film ist modelliert nach der Krupp-Dynastie, mit ihrer kriegswichtigen Eisen- und Stahlindustrie.) Es geht wirklich rasant los, weil gleichzeitig (27. auf den 28. Februar 1933) die Nachricht vom Reichstagsbrand kommt und der alte Herr noch in derselben Nacht ermordet wird. Die Tat wird dem einzigen aufrechten Anti-Nazi in die Schuhe geschoben, der ins Ausland fliehen muss. Er stellt sich später, um Frau und Kinder zu retten, die als Geiseln im KZ Dachau festgehalten werden. – Ein zentrales Ereignis ist der sogenannte ‚Röhm-Putsch’ – ein hitlerscher Term, um zu verschleiern, dass es darum ging, Ernst Röhm und Teile der immer noch national-revolutionär gesinnten SA zu eliminieren (1934). Der wüsteste derer von Essenbeck, Konstantin, der die Firmenleitung an sich gerissen hat, ist SA-Mann und nimmt –von Visconti sehr ausladend inszeniert – am Freundschafts-Treffen in Bad Wiessee teil (mit Gesängen, ausgedehnten Saufereien und Ausschweifungen, auch homosexueller Art). Als dann so etwas wie Nachtruhe eingekehrt ist, gleitet ein Boot besetzt mit Männern in schwarzen SS-Uniformen auf dem Tegernsee lautlos heran, ein Korso von Jeeps nähert sich dem Ort … Das ist die „Nacht der langen Messer“.
Ich will hier nicht die ganze Kette der Ereignisse und Verstrickungen aneinanderreihen – das hat die Dimension eines Shakespeare’schen „Macbeth“. Die Rezeption der westdeutschen Presse und Filmkritik war damals einigermassen ungnädig – sie hat den Plot als unrealistisch und historisch unangemessen gescholten. (Zwiespältiges Echo auch in ‚Filmkritik’ 3/70, lobend bei Klaus Bädekerl, kritisch bei Siegfried Schober und Urs Jenny. Davor ein Text von Werner Schroeter: „Viscontis seriöse Nazioperette“.) Man hätte also schon sehen können, dass Visconti ästhetisch und dramaturgisch etwas anderes im Blick gehabt hat – nämlich das Opernhafte. In meinen Augen hat er gerade durch die Zuspitzung der Abläufe das Wahnwitzige der Zeit getroffen, die Nazi-Vorgehensweise und Usurpierung der Macht von innen nach aussen gekehrt. Nicht annehmbar, im trainierten Westblick der Meinungs-Presse, war wohl auch, dass er das durchexerziert hat am Beispiel einer der mächtigsten Familien der Grossbourgeoisie.
Es ist doch einigermassen seltsam, dass bei all den wohlfeilen BRD-TV-Features über den Nazismus nie der Handschlag von Friedrich Flick mit Hitler zu sehen ist (wohl schon 1932). Den gibt es nämlich auch auf Film – ich habe ihn gesehen in einem (bezeichnenderweise) französischen Dokumentarfilm, der auf arte (25.8.2020) gelaufen ist: Marie-Pierre Camus / Gérard Puechmorel, La Nuit des longs couteaux / Durch Mord zur absoluten Macht. Hitler dezimiert die SA (F 2020, 1h 30).
Diesen Film würde ich gern wiedersehen. Darin wird nämlich auch mitgeteilt, Hitler habe am SS-Sturm auf die SA in Bad Wiessee persönlich teilgenommen – mitten in der Nacht an die Zimmertür von Röhm gepoltert. Das gebot die Ganovenehre, denn die beiden waren ja Duzfreunde, über die SA war Hitler gross geworden. Aber jetzt galt es, die ‚Verräter’ loszuwerden und sich dem Grosskapital anzudienen, den Krieg vorzubereiten.
(Ich möchte noch nachtragen: Der ‚Röhm-Putsch’, Dokumentarspiel, ZDF, Erstsendung 30.6.1967, 20.00 – 21.15 Uhr. Das Buch hat der wackere Axel Eggebrecht mit Inge Stolten geschrieben, konzentriert auf die Figur von Röhm; Regisseur Günter Gräwert hat seinen Namen zurückgezogen – es gab eine Kontroverse um den Hitler-Darsteller, d.h. Gräwert wollte mit Dokumentarmaterial auskommen, die Redaktion verlangte gespielte Hitler-Szenen. Der Film ist in verstümmelter Fassung überliefert – Axel Eggebrecht ist mit einer Vorrede und einer Nachrede zu sehen.)
Noch einmal zum Film von Visconti: bei diesem Wiedersehen ist mir erst so richtig aufgegangen, was das für ein Kinoereignis war – das hat es so nicht wieder gegeben! Diese Ernsthaftigkeit und intellektuelle Redlichkeit (Hinwendung auch zur deutschen Historie und Kultur, die in Viscontis ‚deutschen Trilogie’ resultierte), die Aufwändigkeit der filmischen Konstruktion, was die ganzen technischen und artistischen Ingredienzien eines grossangelegten Eastmancolor-Films betrifft! Die Besetzung der Rollen durch die erste Garde europäischer Schauspieler – Helmut Griem als SS-Offizier ‚Aschenbach’, der in der Industriellen-Familie die Fäden zieht, zeigt, wozu er darstellerisch fähig ist. Das hat einfach etwas unerhört Grosszügiges (ich bin versucht zu sagen ‚Grandseigneurhaftes’), nicht zu denken natürlich ohne Viscontis familiären Hintergrund. Man hat im Hinblick auf seine Person von ‚Dekadentismus’ und ‚Ästhetizismus’ geredet, aber in Götterdämmerung (wie in seiner ganzen Filmographie) ist zu sehen, dass diese Zuschreibung aufgehoben ist – er in seiner Arbeit darüber hinausgeht, ein klares Bewusstsein der Gegenwart und der sozialen Auseinandersetzungen hat. Also Partei ergreift und Kritik übt.
Johannes Beringer