Erinnerungen an Michael Schleeh, Buddhadeb Dasgupta und Polina Gumiela
„Das Traurigste im Leben sind Abschiede und Todesfälle“ (Lie Tien Luk in Hsimeng Rensheng (The Puppetmaster von Hou Hsiao Hsien)
Das Zitat aus dem Film von Hou Hsiao Hsien kommt mir immer wieder in den Sinn, vor allem in den letzten vier Jahren. Nach dem Tod meines Bruders vor zwei Jahren, muss ich immer wieder daran denken. Kurz danach starben auch einige Leute aus dem Bereich Film, die mir sehr viel bedeutet haben, wie zum Beispiel Erika Richter und Hans Schifferle (dessen Artikel über shomingeki in der Süddeutschen Zeitung vom Juni 1996 meine Zeitschrift sehr viel zu verdanken hat).
Am 30. Dezember 2021 ist Michael Schleeh im Alter von 50 Jahren unerwartet gestorben. In der Ausgabe Nr. 25 hatte Michael den wunderschönen Text zu Yasujiro Shimazus Tonari no Yae-Chan (My Neighbour Miss Yae). geschrieben. Der Film ist auch einer meiner Lieblingsfilme aus der frühen Geschichte des Japanischen Kinos und Michaels Text war auch sehr wichtig für den Neubeginn von shomingeki als reine Online-Ausgabe. Michael Schleeh ist vor allem bekannt für seinen wunderbaren Schneelandblog. Da kann man sich ein Bild machen von seinem Wissen über das Asiatische Kino, aber auch von seiner Leidenschaft und Neugier dafür. Der Blog wird auch weiterhin online bleiben. Zusammen mit dem Filmpodcast Schöner Denken hatte Michael an Podcast-Gesprächen über einzelne Filme über den Japanischen Regisseur Keisuke Kinoshita (Link) mitgearbeitet und der deutschsprachigen Kinoshita-Rezeption damit einen wahren Schatz hinterlassen. Unvergesslich bleiben mir einige Erinnerungen; mit Michael bei der Berlinale 2016 bei der Vorführung eines dreistündigen Indischen Films, Sairat im Haus der Kultur der Welten oder ein Pizzaessen am Ende der Berlinale 2018, wo er mir seinen Text anbot und wir uns auch ausführlich über Aparna Sen unterhalten hatten. Ich denke oft, was aus meiner dann doch sehr provisorischen Hommage an Aparna Sen in der letzten Ausgabe hätte werden können, mit nur einem Beitrag von Michael. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es vor allem Aparna Sens 36 Chowringhee Lane (den ich nach dem Gespräch mit Michael erst so richtig für mich entdeckt habe) und The Japanese Wife. Von Michael hätte ich noch viel lernen können, vor allem aber von seiner Neugier für alle möglichen Genres und Besonderheiten des Asiatischen Kinos. Nach Michaels Tod habe ich viel in seinem Schneelandblog gestöbert. Neben vielen anderen Texten gibt es auch einige zu Yoji Yamadas Tora-San-Filmen und einer der wenigen deutschsprachigen Texte zu Anjan Dutts Dutta Vs. Dutta. An dem Tag, an dem ich von Michaels Tod erfuhr, habe ich stundenlang in seinem Schneelandblog herumgestöbert. Als ich damit fertig war und den Computer ausgeschaltet habe, ist dieses Gefühl von Verlust nur noch stärker geworden. Das wird wohl noch sehr lange so bleiben.
Im letzten Jahr, am 10. Juni 2021, ist auch der Indische Poet und Filmregisseur Buddhadeb Dasgupta im Alter von 77 Jahren gestorben. Er war mit seinen Filmen mehrmals auf der Berlinale vertreten, Sein Film Charachar (Shelter of Wings) war 1994 der letzte Film aus Indien, der jemals in einem Berlinale-Wettbewerb zu sehen war. Ich bin ihm oft auf Filmfestivals in Berlin, Montreal und vor allem dem Internationalen Filmfestival von Fribourg begegnet. Da gab es ein Festivalzelt, wo man sich täglich traf und so konnte ich auch mit Buddhadeb Dasgupta viel reden. 1999 war Buddhadeb Dasgupta in der Internationalen Jury von Fribourg, ich in der Fipresci-Jury. Da traf man sich fast jeden Tag nach den Filmvorführungen im Zelt bei einem Imbiss oder einem Glas Wein. Buddhadeb Dasgupta war der erste Indische Filmregisseur, den ich etwas näher kennenlernen durfte. Über seine Filme hat er nicht gerne geredet. Er hat geglaubt, daß sie für sich selbst sprechen können. Die junge Indische Filmemacherin Supriya Suri hat bereits 2013 einen sehr schönen Dokumentarfilm über Buddhadeb Dasgupta gemacht, Maestro-A Portrait (Buddhadeb Dasgupta). Seine Gedanken und Ideen zum Kino sind meistens aus dem Off gesprochen. Wenn er direkt zu sehen ist, schweigt er meistens. Es gibt da eine einfache Szene, die mich sehr berührt hat: Buddhadeb Dasgupta beim Drehen. Mit seinen Mitarbeitern probiert er eine sehr komplexe Kamerafahrt auf Schienen aus. Die Ruhe und Aufmerksamkeit, in der er mit ihnen redet hat bei mir ein Deja vu hervorgerufen. Der Film ist ein sehr schöner Einstieg in die Filme des Regisseurs, aber auch eine schöne Erinnerung für die, die ihm begegnet sind.
Im Sommer 2021 ist die bulgarische Filmemacherin Polina Gumiela im Alter von 40 Jahren in Berlin gestorben. Ihr Film Blau meine Augen, bunt das Kleid, den ich in der Berlinale-Generation 2020 gesehen habe, ist ein wunderschöner Dokumentarfilm über ihre damals 3-jährige Tochter. Die Kamera sieht ihr einfach beim Spielen zu. So einfach das klingt, der Film schafft es tatsächlich durch den Blick auf das Kind auch dessen Wahrnehmung von der Welt spürbar zu machen. Das ist schon fast unheimlich, wie nah der Film an dem ist was Wim Wenders in Tokyo Ga einmal sagt: „Wenn man doch so filmen könnte, einfach schauen ohne etwas beweisen zu wollen.“ Wir hatten einen kurzen Email-Kontakt, nachdem sie meinen Artikel über Blau meine Augen, bunt das Kleid gefunden hatte. Da hat sie mir einen älteren Film von sich gezeigt: Die Insel, diesmal über eine alte Frau (ihre Großmutter) in den letzten Jahren vor ihrem Tod. Wo für das Kind der Hinterhof einer Siedlung wie ein grenzenloses Universum erscheint, ist der Alltag der sehr alten Frau ein sehr reduzierter. Diese beiden Filme von Polina Gumiela (die an der DFFB in Berlin Film studiert hatte) wären ein tolles Doppelprogramm gewesen. Von ihrem Tod im Sommer 2021 habe ich nur erfahren, als ich zufällig auf eine ältere sehr traurige Berlinale-Meldung stieß.
Rüdiger Tomczak